»Aber… Pfarrer Hulshout…«, stammelte Elisabeth.
»Er ist einverstanden, dass ihr beiden ein leeres Zimmer unter dem Dach erhaltet. Ich nehme an, Ihr wollt nicht zu Eurem Mann zuruckkehren, Elisabeth.«
Sie nickte. »Wir haben etwas erfahren«, sagte sie vorsichtig und schielte hinuber zu der Nonne, die ganz Ohr zu sein schien.
»Gehen wir«, sagte Andreas und bedankte sich bei der Nonne fur ihre Freundlichkeit. Elisabeth war froh, als sie die Klostermauern hinter sich gelassen hatte.
Auf dem Weg nach Sankt Kolumba berichtete Elisabeth, dass sie Annes Ehemann gefunden hatten, wenn man dem Wirt, den sie gefragt hatten, glauben konnte. »Es ware aber wohl nicht gut, wenn wir allein versuchen wurden, seiner habhaft zu werden.«
»Also werden wir uns an die Buttel wenden«, sagte Andreas, wahrend Grete ihnen widerwillig die Tur offnete. »Gleich morgen.«
Wieder eine Kammer, wieder ein fremdes Bett, wieder unter dem Dach. Elisabeth kam sich vor, als laufe ihr Leben in der letzten Zeit nach einem unerbittlichen Muster ab. Nachts, nebeneinander im Bett, fragte Elisabeth leise, ob Anne Angst vor der Begegnung mit ihrem Mann habe.
»Ja«, hauchte sie.
»Aber wir werden nicht allein sein«, versuchte Elisabeth sie zu beruhigen.
»Was wird mit ihm geschehen, wenn die Buttel ihn mitnehmen?«
»Er wird ins Gefangnis geworfen.« Sie horte Annes leises Schluchzen. »Trauerst du etwa um diesen Mann?«, fragte Elisabeth verstandnislos.
»Es sind die Erinnerungen an die besseren Zeiten«, sagte Anne. »Es stimmt, dass ich mit dieser Heirat nicht einverstanden war und Edwyn oft das Schlimmste gewunscht habe, aber jetzt, wo es ihm bevorsteht, tut er mir Leid.«
Elisabeth begriff gar nichts mehr. Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte zu schlafen.
Am nachsten Morgen machten sich die drei auf zum Rathaus hinter dem Alten Markt. Andreas hatte fur die beiden Frauen gewohnliche Kleidung besorgt: Hauben, Ober- und Unterkleider, Schurzen, Wamser und Schuhe, die zwar nicht der letzten Mode entsprachen, aber durchaus bequem waren. Elisabeth fuhlte sich wieder sicherer. Doch immer wieder schaute sie sich um, ob sie irgendwo ihren Mann oder einen seiner Handlanger entdeckte. Sie erkannte niemanden.
Als sie auf dem Rathausplatz standen, warfen sie einen raschen Blick auf den neuen, kaum sechzig Jahre alten Turm. Stolz und majestatisch reckte er sich in den wolkenverhangenen Himmel und kundete vom Stolz dieser Stadt und seiner Regenten. Wie der Dom, so war auch dieser Turm im neuen, luftigen Stil gehalten, der die Saulen und Pfeiler wie himmelwarts strebende Melodien wirken lie?. Andreas senkte als Erster wieder den Blick und schaute die beiden Frauen an. Anne erschien ihm als eine durchschnittliche, blasse Person, der er auf der Stra?e keinerlei Beachtung geschenkt hatte, doch Elisabeth begeisterte ihn. Wahrend ihrer Abwesenheit hatte sie sich verandert. Sie war sicherer und mutiger, fester im Auftreten und bestandiger geworden. Als sie bemerkte, dass er sie anschaute, schenkte sie ihm einen kurzen, freundlichen Blick und sah dann weg.
Der Eingang zum Rathausturm wirkte wie ein Kirchenportal. Der Erretter der Menschheit, Jesus Christus, wurde im steilen Bogenfeld von den Aposteln Petrus und Paulus flankiert, und daneben tummelten sich unzahlige weitere Heiligenfiguren auf Bildkonsolen, so weit und hoch das Auge blickte. Ganz oben, unter der Turmuhr, bewegte sich plotzlich etwas, das Andreas aus den Augenwinkeln sehen konnte. Er schaute hinauf und musste lacheln. Gerade schlug die Uhr die zehnte Morgenstunde, und der Platzjabbeck, der riesige, groteske Kopf aus Eichenholz, streckte bei jedem Stundenschlag die Zunge heraus. Wie wunderbar war diese Stadt, die auch an den erhabensten Gebauden noch ihren milden Spott auslie?!
Im ersten Stock des Rathausturmes befand sich ein Durchgang zu einem Zwischentrakt, der als Prophetenkammer bekannt war. Darin fuhrte eine Wendeltreppe hinunter zur Wachstube mit dem Offizierszimmer. Andreas fuhrte die beiden Damen dorthin und wurde beim Stadtbuttel vorstellig. Der Buttel, ein stattlicher Mann mit einem schwarz schillernden Wams und einem ausladenden Bart, horte die Beschuldigungen der Frauen schweigend an und holte dann zwei Untergebene, denen er befahl, die Frauen und den Geistlichen zu begleiten und den Englander wegen tatlichen Angriffs auf die Geistlichkeit zu arrestieren. Die beiden Manner waren jung und wirkten mit ihren Brustpanzern und den gro?en Hellebarden recht draufgangerisch. Sie begleiteten die kleine Gruppe zum Haus Schonefrau auf dem Berlich.
Sie hatten Gluck. Gerade als sie die Schankstube betraten, wollte der Englander gemeinsam mit Dulcken den Raum verlassen. Die beiden zuckten zusammen, als sie die Wachmanner und deren Waffen sahen. Und dann bemerkte Palmer seine Frau.
Er erstarrte. Zog die Brauen zusammen. Seine Augen spruhten Feuer. Er verga? die Buttel und sturzte sich auf Anne. »You dirty bitch!«, schrie er. »I’ll kill you!« Doch dazu kam er nicht. Die Buttel packten und uberwaltigten ihn. Sie banden ihn mit einem Seil und gaben ihm zusatzlich noch einen Schlag mit der Hellebarde gegen den Kopf, sodass er sich benommen abfuhren lassen musste.
»Das durft Ihr nicht!«, rief Dulcken und humpelte auf die Buttel zu. »Er ist mein Gast.«
»Wer seid Ihr?«, fragte einer der Wachmanner. Andreas uberlegte, ob er angeben sollte, dass Dulcken an dem Uberfall auf ihn beteiligt gewesen war. Es ware gut, wenn auch Dulcken festgesetzt wurde, denn Andreas war sich uber seine Rolle bei Ludwigs Tod nicht im Klaren. Gerade als er den Butteln dies sagen wollte, schoss Dulcken erstaunlich behande an ihnen vorbei und war bereits aus der Schankstube geflohen, als die Wachmanner sich noch nach ihm umdrehten. Sie sahen einander ratlos an. Der Englander versuchte, die Lage fur sich zu nutzen, und kampfte mit aller Kraft gegen seine Gegner. Diese hatten ihre liebe Not mit ihm; an eine Verfolgung Dulckens war nicht zu denken. Edwyn Palmer blitzte seine Frau an und bespuckte sie. Ihr standen die Tranen in den Augen, als sie sich den Speichel aus dem Gesicht wischte. Elisabeth nahm sie in den Arm. Andreas stand verloren daneben und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Als Palmer an Anne vorbei abgefuhrt wurde, raunte er ihr nochmals zu: »I’ll kill you.«
Edwyn Palmer wurde zunachst in die Arrestzelle des Rathauses gebracht. Dort legte man ihn in Ketten. Der Wachhauptmann erklarte Andreas, dass man den Englander morgen verhoren werde, und es sei wichtig, dass er, Elisabeth und Anne als Klager zugegen seien. Dann konnten ihre Aussagen zu Protokoll genommen werden. Andreas bedankte sich fur die schnelle Hilfe, und gemeinsam mit den beiden Frauen verlie? er das Rathaus.
Am nachsten Morgen fanden sie sich erneut dort ein. Sie wurden in ein kleines Zimmer unter dem Paradiessaal gebracht, wo bereits ein Schreiber und der Richter auf sie warteten. Kurz darauf wurde Edwyn Palmer hereingefuhrt und roh auf einen Stuhl vor dem Richter gesetzt. Dieser begann sofort: »Angeklagter, Ihr werdet des Angriffs auf einen Geistlichen sowie des Mordes an einem Kolner Kaufmann beschuldigt. Seid Ihr unserer Sprache machtig?«
Palmer nickte und warf einen raschen Seitenblick auf seine Frau, die rechts von ihm auf einer Bank an der Wand sa?. Sie wich seinem Blick aus und schaute aus dem Fenster.
»Gut. Schreiber, nehmt das zu den Akten. Was, Angeklagter, habt Ihr zu diesen Vorwurfen zu sagen?«
»Gelogen alles. Ich bin ein Untertan des englischen Konigs. Ihr durft nicht richten mich.«
Den letzten Einwurf uberhorte der Richter. »Ehrwurden, bitte legt Eure Sicht der Dinge dar«, bat er und schaute den jungen Geistlichen von unten herauf an. Andreas bemerkte, dass der schwarze Talar des Juristen recht fleckig war und sein Barett etliche Mottenlocher aufwies. Das drahtige, graue Haar lugte widerspenstig darunter hervor und fiel ihm bis auf die Schultern. Andreas schilderte den Uberfall auf ihn in allen Einzelheiten. Danach schaute der Richter den Englander fragend an.
»Falsch«, antwortete dieser zornig. »Ich habe diesen Mann Rechnung gegeben fur Neugier.«
»Rechnung?« Der Schreiber kicherte.
»Also gebt Ihr zu, Andreas Bergheim geprugelt zu haben. Der arme Mann ware beinahe daran gestorben.« Der Richter schaute wieder zu Andreas hinuber, der zwischen Anne und Elisabeth sa?. Er schien nicht allzu viel Mitleid mit der Geistlichkeit zu haben.
»Er ist eine Schwachling. Meine Schuld ist es nicht, wenn er ware daran gestorben. Nur habe ich ihn ein wenig geschlagen«, versuchte sich Palmer zu entschuldigen. Nun war er ganz ruhig. »Ich bin Englander.« Er schien zu glauben, dass ihn dieser Umstand vor einer Strafe schutzen wurde.