ZWEIUNDZWANZIG

War Dulcken, den Andreas seit dem Zusammentreffen auf dem Neumarkt nicht mehr in seine Uberlegungen einbezogen hatte, eine Schlusselgestalt in diesem vertrackten Mysterium? Andreas wollte unbedingt noch einmal mit ihm reden, doch wo sollte er ihn finden? Hatte er uberhaupt noch ein Dach uber dem Kopf? Die Vorstellung, diese Jammergestalt konnte das Leyendecker’sche Handelshaus leiten, erschien Andreas immer absurder. In jeder freien Stunde ging er zum Neumarkt, qualte sich an den vielen Pferchen mit blokendem, quiekendem und brullendem Vieh vorbei und hielt nach Dulcken Ausschau. Doch der hinkende Kramer lie? sich nirgendwo blicken. Andreas streunte durch die angrenzenden Gassen und Stra?en, ging zu Sankt Aposteln, trat in den Schatten der drei Rotunden mit den Rundbogen, die so viel zarter waren als die massige Architektur von Sankt Kolumba, ging an den kleinen Fachwerkhausern entlang, die sich an die Kirche schmiegten, lauschte dem Larm der Handwerker, dem Schnattern der Ganse und dem Rufen der machtigen Glocken und hatte beinahe den Grund fur seinen Spaziergang vergessen. Er stellte wieder einmal fest, wie sehr er diese Stadt doch liebte – ihre Lebhaftigkeit, ihre ansehnlichen Hauser, die vielen Kirchen, wegen denen man die Stadt auch das Heilige Koln oder das Rom des Nordens nannte, und die Menschen, die wie das Salz in der Suppe waren. Auch wenn es da einige gab, die diese Suppe zu versalzen drohten.

Johannes Dulcken zum Beispiel.

Der Kramer blieb unauffindbar.

Es dauerte eine Woche, bis Andreas geradezu uber ihn stolperte. Er war zur theologischen Fakultat im Kapitelhaus hinter dem Dom unterwegs, wo er noch einmal Pfarrer Hulshout vertreten und eine Vorlesung uber das kanonische Recht halten sollte, als ihm Dulcken in Begleitung des vierschrotigen Kerls, mit dem zusammen er die Witwe Leyendecker besucht hatte, entgegenkam. Andreas war schon spat dran und musste sich sputen, wenn er rechtzeitig zu seiner Vorlesung kommen sollte. Doch die Entscheidung war sofort gefallt. Er sprach Dulcken offen an. Der abgerissene Mann, der seinen Bauchladen nicht mehr dabeihatte, dafur aber immer noch uber und uber mit Amuletten behangt war, blieb verdutzt stehen und erkannte Andreas offenbar nicht. Der gro?e, rothaarige Mann neben ihm nahm sofort eine Angriffsstellung ein.

»Wisst Ihr nicht mehr, wer ich bin?«, fragte Andreas frei heraus. »Ihr habt mir interessante Dinge uber Ludwig Leyendecker erzahlt.« Es war nicht zu ubersehen, dass Dulcken sich nun erinnerte.

»Und?«

»Ich wurde mich gern noch einmal mit Euch unterhalten.«

»Wir haben nicht Zeit«, brummte der Rothaarige in schlechtem Deutsch.

»Es dauert nicht lange«, versuchte Andreas ihn zu beschwichtigen. Er schaute hoch zu einer Madonnenfigur, die in der Nische eines gro?en Steinhauses unmittelbar vor ihm stand. »Heilige Maria, vergib mir meine Saumigkeit den Studenten gegenuber«, betete er stumm und wandte sich dann wieder an Dulcken. »Ihr wollt den Weinhandel Ludwig Leyendeckers ubernehmen?«

Dulcken kniff die Augen zusammen. »Wer sagt das?«

»Ludwigs Witwe.«

Dulcken hinkte einen Schritt zuruck. »Ist es verboten, Handel zu treiben?«

»Naturlich nicht«, wehrte Andreas ab. Er bemerkte, wie der Fremde die Muskeln anspannte. »Ich wundere mich nur, woher Ihr das Geld nehmt.«

»Ist meins«, sagte der Fremde mit hartem Akzent. »Ich gebe, und John schuldet mir.«

»Eine gunstige Gelegenheit, nicht wahr?«, meinte Andreas.

»Allerdings. Das Unternehmen ist nicht mehr viel wert«, meinte Dulcken leichthin und richtete sich zu seiner vollen, nicht sonderlich beeindruckenden Gro?e auf. »Zauberei ist halt geschaftsschadigend. Es ist doch nicht meine Schuld, dass sich Leyendecker mit dem Teufel eingelassen hat. Es wird ein hartes Stuck Arbeit sein, den guten Ruf des Hauses wieder aufzubauen, aber mit Hilfe meines englischen Freundes werde ich es schaffen, nicht wahr, Edwyn?«

Der Fremde nickte und lie? Andreas nicht aus den Augen.

»Bemerkenswert«, sagte Andreas und rieb sich das Kinn. »Das ware ein gutes Motiv fur einen Mord. Man bringt den Toten in Verruf und erwirbt sein Gut zu einem Spottpreis.« Er hatte schneller gesprochen als gedacht. Andreas hatte den Mund noch nicht geschlossen, als er schon bemerkte, dass er einen schwerwiegenden Fehler begangen hatte. Der Rothaarige sprang auf ihn zu.

Andreas taumelte zuruck. Zu spat. Der Englander hatte ihn am Gewand gepackt. Dulcken stand reglos dabei und giftete: »Mach ihn fertig, den ekelhaften Pfaffen!«

»Hilfe!«, schrie Andreas. Doch niemand half ihm. Kraftig aussehende Manner gingen vorbei oder machten einen gro?en Bogen um die beiden Streithahne, doch sie kamen nicht auf den Gedanken, dem Geistlichen beizustehen. Einer zischte sogar: »Moge Gott dir helfen!« Im gleichen Augenblick ertonte ein schrecklicher Donner aus dem Himmel. Der Englander fuhr zusammen, und Andreas gelang es, sich aus seinem Griff zu winden. Sofort lief er los. Er achtete nicht auf die Richtung, rempelte Manner und Frauen, Handwerker und Adlige an, verschloss die Ohren vor ihren Fluchen, sturzte von Stra?e zu Gasse, sah sich bisweilen um, erkannte seine Verfolger, bemerkte, wie sie aufholten. Regen setzte ein, Platzregen lief ihm durch die Haare und in die Augen, trubte den Blick, die Hauser vor ihm schwankten, die spitzen Dacher und hohen Kamine tanzten einen Hollentanz, die unzahligen Heiligenfiguren wanden sich und glanzten nass, die Gosse lief uber. Andreas patschte durch die Pfutzen, spurte kaum, dass er nasse Fu?e bekam. Stiche trieben sich in seine Seite, das Atmen schmerzte. Er keuchte, ihm ging die Luft aus. In einer kleinen Gasse blieb er stehen.

Niemand. Er war allein. Kein Mensch, kein Tier war auf der Stra?e zu sehen. Er sah sich um. Wo war er? Er konnte sich nicht erinnern, diese Gasse je betreten zu haben. Die Hauser waren armlich, bestanden ausnahmslos aus Fachwerk, der Boden war schlammig, ungepflastert und voller Pfutzen, in denen Unrat und seltsam schillernde Flussigkeiten schwammen. Nirgendwo war ein Glasfenster zu sehen; die Wande waren mit grobem Lehm ausgeschmiert, die Balken vermodert und die Turen wie zahnlose Munder, die in jenseitiges Dunkel fuhrten. Der Regen schien jede Farbe ausgewaschen zu haben und legte ein graues Tuch uber alle Gebaude. Kein Kirchturm, kein Patrizierhaus, kein Brunnen, kein steinerner Heiliger war weit und breit zu sehen. Und diese Stille!

Nachdem Andreas ein wenig Luft geschnappt hatte, ging er vorsichtig einige Schritte weiter. Das Platschen seiner Fu?e durch die Pfutzen war das einzige Gerausch. Allmahlich lie?en die Seitenstiche nach, und er bekam wieder Luft. Da horte er hinter sich aufgeregtes, unregelma?iges Trappeln. Er drehte sich um.

Dulcken und der Englander!

Andreas lief los. Und musste feststellen, dass er sich in einer Sackgasse befand. Sie wurde von einem offensichtlich unbewohnten, verwahrlosten Haus versperrt, dessen Tur ungeheuer massiv war. Andreas zerrte daran, aber sie gab nicht nach. Er wirbelte herum.

Sie waren nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.

»Unser Pfafflein kann schnell rennen«, hohnte Dulcken. »Gott scheint ihm Flugel verliehen zu haben. Edwyn, ich glaube, es ist der rechte Ort und Zeitpunkt, um unseren Naseweis zu seinem Herrn zu schicken. Er sollte unsere Plane nicht durchkreuzen. Pech fur ihn, dass er seine Nase in alles hineinstecken muss.«

Mit zwei Schritten war der Englander bei Andreas. Der junge Geistliche wollte seine Haut so teuer wie moglich verkaufen, aber gegen den machtigen Rotschopf hatte er das Nachsehen. Seine Welt versank in Schmerzen. Sterne explodierten vor seinen Augen, Blitze durchzuckten Korper, Arme und Beine. Seine Schreie wurden von Blut erstickt.

Das Letzte, was er horte, war das laute Rufen eines Mannes. Dann wurde alles in seiner Umgebung schwarz. Die Welt hatte sich aufgelost.

DREIUNDZWANZIG

Es war eine traurige und stille Reise fur den Kaufmannszug. Elisabeth versuchte immer wieder

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