herauszufinden, ob sie noch verfolgt wurden, aber sie bemerkte nichts. Anne hockte ihr gegenuber in dem Wagen, in dem sie gemeinsam mit dem Kaufmann Jakob Gartzem gesessen hatten. Die Kutscher hatten das Gefahrt wieder auf die Rader gestellt und notdurftig hergerichtet. Immer, wenn Elisabeth das Wort an ihre neue Freundin richtete, wandte diese den Kopf ab und starrte die Holzbohlen der Wagenwand an. Irgendwann gab Elisabeth auf und hullte sich ebenfalls in Schweigen. Sie dachte uber ihre Reise nach. Was hatte sie gebracht? Einen Hinweis auf Annes Mann als moglichen Morder Ludwigs und einen Hinweis auf eine seltsame Verschworung, uber deren Ziel und Zweck nichts in Erfahrung zu bringen war. Und eine Vergewaltigung sowie die Flucht vor ihrem Mann, der offenbar so erzurnt daruber war, dass er gedungene Morder hinter ihr hergeschickt hatte. Ferner fur Anne eine kurze neue Liebe und deren jahes Ende. Beinahe sehnte sie sich nach ihrem ruhigen, wenn auch unbefriedigenden Leben zuruck, das sie nun unwiderruflich verloren hatte. Der Tod ihres Bruders war auch fur sie zum Verhangnis geworden.

Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Wie sollte sie Andreas Bergheim unter die Augen treten? Sie hatte sich vor ihrer Abreise nicht einmal von ihm verabschiedet, und sie brachte aus London nichts als wilde Mutma?ungen mit.

Endlich sahen sie in der Ferne die Turme der Stadt, die wie ein feines Spitzengewebe vom blauen Himmel herabzuhangen schienen.

Mit gemischten Gefuhlen hielten sie beim Eigelsteintor. Die Stadtwachen durchsuchten die Wagen und uberpruften die Waren. Die beiden Pilgerinnen lie?en sie unbehelligt. Dann rollten die Gefahrte durch die Torburg. Elisabeth konnte Annes Schweigen nicht mehr ertragen und hatte sich mit auf den Kutschbock gesetzt. Nun fuhren sie den Eigelstein entlang. Auf der rechten Seite lagen Garten und kleine Weizenfelder; Gehofte grenzten unmittelbar an die Stra?e, und kurz vor der Abzweigung der Weidengasse lag ein kleiner Weingarten, dessen Ernte eine recht gute Grundlage fur Wurzweine war oder zu Aqua Sabaudia, dem im Volksmund so genannten Schabau, gebrannt wurde. Der Anblick der Reben mit den winzigen Trauben, die aus der Ferne wie kleine Tintenflecken aussahen, erinnerte Elisabeth daran, wie ihr Bruder immer spottisch auf diesen »sooren hungk« herabgeschaut hatte, der auch in anderen Gegenden des Stadtgebietes angebaut wurde, zum Beispiel auf dem Gereonsdriesch, im Schatten der machtigen Kirche Sankt Gereon nahe der nordwestlichen Stadtmauer. Wie stolz war er immer auf seine besten Lagen des Weins von Rhein, Mosel und aus der Pfalz gewesen. Trotzdem hatte auch Ludwig bei Sankt Severin einen dieser Weingarten besessen, dessen Trauben hauptsachlich zur Herstellung von Branntwein dienten – ein kleiner, aber angenehmer Nebenverdienst, wie er immer lachelnd gesagt hatte, wenn er wieder einmal genusslich einen kleinen Becher mit Branntwein in der Hand gehalten hatte.

Bald kamen das Langschiff und der Kran des Domes in Sicht. Elisabeth sank das Herz. Wie sollte ihr weiteres Leben aussehen? Zu ihrem Mann konnte sie nicht zuruck. War er vielleicht schon wieder in Koln? Wenn er ein Schiff vom Stalhof nach Antwerpen und dort ein schnelles Pferd genommen hatte, konnte er bereits zuruckgekehrt sein. Auf keinen Fall wollte Elisabeth es wagen, in die Rheingasse zu gehen.

Je naher sie dem Dom kamen, desto herrschaftlicher wurden die Hauser. Hier gab es keine bauerlichen Anwesen mehr, und auch die Fachwerkbauten waren nicht langer in der Uberzahl. Stattliche Steinhauser mit Rundbogen und Glas in den Fenstern beherrschten das Stra?enbild. Wahrend drau?en auf dem Eigelstein noch ein paar neugierige Kinder hinter dem Kaufmannszug hergelaufen waren, wurde er hier zwischen den gro?en Gebauden und im Gewuhl des Verkehrs nicht mehr beachtet. Elisabeth bat den Kutscher, kurz anzuhalten. Sie sprang vom Bock, ergriff ihren Pilgerstab und ihr Bundel und riss die Wagentur auf. »Wir sind da, Schwester Anne«, sagte sie. Anne stieg mit abwesendem Blick aus und stutzte sich schwer auf ihren Stock, wahrend sie zusahen, wie sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Niemand entbot ihnen einen Abschiedsgru?.

»Ich wei?, wohin wir jetzt gehen«, meinte Elisabeth. »Ich habe einen guten Freund, der ganz in der Nahe wohnt. Und ich glaube, unser Aufzug ist gut dazu geeignet, ihm einen Besuch abzustatten.«

Sie fuhrte ihre Freundin, die noch vollig neben sich selbst zu stehen schien, durch die larmenden Stra?en Kolns, bis sie hinter Sankt Kolumba standen. Elisabeth klopfte an die Tur des Pastorats. Grete, die alte Magd, offnete.

Sie erkannte Elisabeth zunachst nicht, sondern war sichtlich erstaunt, zwei etwas verstaubt wirkende Pilgerinnen vor ihrer Tur zu sehen. »Geliebte Schwestern in Christo«, sagte sie mit ihrer alten, hohen und salbungsvollen Stimme, »hier seid Ihr falsch. Bittet im Klarissenkloster hinter dem Kornhaus um Aufnahme.« Sie wollte die Tur bereits wieder schlie?en, als Elisabeth rasch einen Fu? zwischen sie und den Rahmen stellte und sagte: »Erkennt Ihr mich denn nicht? Ich bin Elisabeth Leyendecker. Ich muss sofort Andreas Bergheim sprechen. Es ist wichtig.«

»Das ist unmoglich.« Tranen traten in die Augen der alten Magd. »Bitte geht. Ihr habt meinem guten Herrn nichts als Scherereien gebracht.« Sie druckte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tur, doch Elisabeth wich nicht zuruck.

»Was ist geschehen?«, fragte sie. »Wir sind zwei gottesfurchtige Frauen. Warum wollt Ihr uns nicht zu ihm lassen?«

»Weil es nicht geht.«

»Warum nicht?«

»Weil… weil…« Ihr versagte die Stimme.

Eine Welle der Angst ergriff Elisabeth. Was war mit Andreas wahrend ihrer Abwesenheit passiert? War ihm etwas zugesto?en? »Warum nicht?«, wiederholte sie mit einer gewissen Scharfe in der Stimme, die sogar Anne nicht entging.

Unter Schluchzen brachte Grete hervor: »Der geistliche Herr ist auf grausame Weise uberfallen worden.«

»Ist er verletzt?«, fragte Elisabeth hastig. Sie machte sich schreckliche Vorwurfe, Andreas in die ganze Sache hineingezogen zu haben.

»Schlimmer!«, jammerte Grete und wischte sich die Tranen aus den Augen.

Elisabeth spurte, wie ihr Hitze in den Kopf schoss. »Rede endlich!«, herrschte sie die alte Magd an.

Diese offnete endlich die Tur und sagte leise. »Kommt und seht selbst.« Sie fuhrte die beiden Frauen in den ersten Stock. Elisabeth schlug das Herz bis zum Hals. Sie warf einen raschen Blick auf die verschlossene Tur zum Wohnraum, in dem sie Andreas die Nachricht von Ludwigs Tod mitgeteilt hatte. Ihr zweiter Weg in das Innere dieses Hauses fuhrte sie offenbar nicht in die Stube, sondern in das Schlafzimmer des jungen Geistlichen. Das verhie? nichts Gutes. Ihr Mund wurde trocken, und Schwei?perlen traten ihr auf die Stirn. Sie wischte sie sich unter der ausladenden Pilgerhaube ab und schlug dabei mit dem Stock versehentlich gegen die Holztafelung des Flurs.

»Wollt Ihr wohl Acht geben!«, zischte Grete. Elisabeth fuhr zusammen.

Die alte Magd offnete tatsachlich die Tur zu Andreas’ Schlafkammer. Elisabeth war entsetzt, als sie ihn ausgestreckt auf dem Bett liegen sah. Und erleichtert.

Er lebte. Noch. Mit zwei Schritten war sie bei ihm und kniete sich neben ihn. Sein Kopf war grun und blau, das rechte Auge zugeschwollen, die Lippe aufgeplatzt, und an der Schlafe klaffte eine Wunde, die sich zum Teil wieder geschlossen hatte. Er stohnte. Richtete das unverletzte Auge auf Elisabeth. Ein seltsamer Glanz trat hinein. Bildete sie sich das nur ein, oder freute er sich, sie zu sehen?

»Armster, was ist geschehen?«, flusterte sie ihm ins Ohr.

Das Sprechen fiel ihm schwer, aber langsam und stockend berichtete er von seinen eigenen Nachforschungen bis hin zu der Begegnung mit Dulcken und dem Englander. Als Elisabeth horte, dass ein Englander ihn zusammengeschlagen hatte, fragte sie ihn, ob er den Namen des Schurken wisse.

»Edwyn«, krachzte Andreas.

Anne stohnte. »Ich habe es gewusst«, sagte sie mit einer Stimme voller Hass. Erst jetzt schien Andreas die zweite Frau zu bemerken. Er sah Elisabeth fragend an. Mit knappen Worten gab sie ihren Bericht von der Abreise nach London bis zu der traurigen und gefahrvollen Ruckfahrt. Als sie geendet hatte, meinte die Magd: »Nun ist es genug. Seht Ihr nicht, wie der junge Herr leidet? Bitte geht jetzt. Ich habe Euch gesagt, wo Ihr eine Unterkunft finden werdet. Kommt morgen wieder, wenn Ihr Euch nach dem Befinden des ehrwurdigen Herrn erkundigen wollt.«

»Auf keinen Fall«, beharrte Elisabeth. »Bringt uns hier unter.«

Hinter ihr donnerte eine Stimme: »Nein!« Elisabeth drehte sich um – und stand Pfarrer Hulshout gegenuber. Der alte Priester war rot vor Wut und ballte die Faust. »Hier ist keine Herberge fur Weibsvolk. Geht zu Euresgleichen, wie Grete es Euch anempfohlen hat.«

»Wisst Ihr nicht, wer ich bin?«

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