Mord Schritt fur Schritt so dargestellt wurde, wie er stattgefunden hat. Das ware kein Krimi, sondern ein Sachbuch. Obschon am Schluss eh die ganze Geschichte erzahlt ist, wird sie erst durch das Framing spannend.
Fazit: Seien Sie sich bewusst, dass Sie nichts darstellen konnen, ohne zu framen, und dass jeder Sachverhalt – ob Sie ihn von einem treuen Freund horen oder in einer seriosen Zeitung lesen – dem Framing unterliegt. Auch dieses Kapitel.
Warum abwarten und nichtstun eine Qual ist
Fu?baller, die einen Elfmeter zu versenken haben, schie?en in einem Drittel der Falle in die Mitte des Tors, in einem Drittel nach links und in einem Drittel nach rechts. Was tun die Torhuter? Sie hechten zu 50 % nach links und zu 50 % nach rechts. Jedenfalls bleiben sie nur selten in der Mitte stehen – und das, obwohl ein Drittel aller Balle dort landet. Warum? Weil es viel besser aussieht und es sich weniger peinlich anfuhlt, auf die falsche Seite zu hechten, als wie ein Trottel stehen zu bleiben und den Ball links oder rechts vorbeisegeln zu sehen. Das ist der Action Bias (auf Deutsch etwa: Uberaktivitat): Aktiv werden, selbst wenn es nichts nutzt.
Die Fu?ballstudie stammt vom israelischen Forscher Bar Eli, der Hunderte von Elfmetersituationen ausgewertet hat. Aber nicht nur Torhuter verfallen dem Action Bias. Eine Gruppe Jugendlicher au?erhalb eines Nachtklubs schreien sich an, gestikulieren wild. Die Situation ist nahe daran, in eine veritable Schlagerei auszuarten. Junge Polizisten in Begleitung von dienstalteren Berufskollegen halten sich zuruck, beobachten die Situation aus der Distanz und greifen erst dann ein, wenn es die ersten Verletzten gibt. Wenn keine erfahrenen Polizisten dabei sind, sieht es anders aus: Die jungen, ubereifrigen Ordnungshuter lassen sich vom Action Bias ubermannen, das hei?t, sie greifen sofort ein. Diese Studie aus Gro?britannien zeigt auch, dass es dort, wo die Polizisten lange abwarten, weniger Verletzte gibt als in Situationen, in denen die (jungen) Polizisten fruhzeitig intervenieren.
Der Action Bias kommt besonders dann zum Tragen, wenn eine Situation neu oder unklar ist. Vielen Investoren geht es wie den unerfahrenen Polizisten vor dem Nachtklub: Sie konnen das Treiben an der Borse noch nicht richtig einschatzen und verfallen in eine Art Hyperaktivitat. Naturlich lohnt sich das nicht. Warren Buffett druckt es so aus: »Beim Investieren korreliert Aktivitat nicht mit Leistung.« Weitere knackige Zitate von Warren Buffett und Charlie Munger im Anhang.
Der Action Bias kommt in den gebildetsten Kreisen vor. Ein Arzt hat einen Patienten mit einem unklaren Krankheitsbild vor sich. Vor die Wahl gestellt, ob er eingreifen soll oder nicht, also ein Medikament zu verschreiben oder abzuwarten, wird er tendenziell die aktive Variante wahlen. Wir brauchen ihm nicht mal zu unterstellen, er tue dies aus finanziellen Uberlegungen – es ist einfach der ActionBias, der ihn dazu bewegt.
Warum gibt es den Action Bias? In einer Jager-und-Sammler-Umgebung, fur die wir optimiert sind, zahlt sich Aktivitat viel starker aus als Nachdenken. Blitzschnelles Reagieren war in der Vergangenheit uberlebenswichtig. Nachdenken konnte todlich sein. Wenn unsere Vorfahren am Waldrand eine Silhouette auftauchen sahen, die wie ein Sabelzahntiger aussah, setzten sie sich nicht wie Rodins »Denker« auf einen Stein, um taxonomische Uberlegungen anzustellen. Sie hauten ab, und zwar schleunigst. Wir sind alle Nachkommen dieser Schnellreagierer, die lieber einmal zu oft weggerannt sind. Doch unsere heutige Welt ist anders – sie belohnt scharfes Nachdenken gegenuber Aktivitat. Die Umstellung fallt uns schwer.
Sie erhalten keine Ehrung, keine Medaille, keine Statue mit Ihrem Namen drauf, wenn Sie durch Abwarten genau die richtige Entscheidung treffen – fur das Wohl der Firma, des Staates, der Menschheit. Haben Sie hingegen Entschlossenheit demonstriert, rasch gehandelt, und eine Situation hat sich verbessert (wenn auch vielleicht rein zufallig) – dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass Sie auf dem Dorfplatz geehrt werden oder zumindest Mitarbeiter des Jahres werden. Die Gesellschaft zieht gedankenloses Handeln dem sinnvollen Abwarten vor.
Fazit: In unklaren Situationen verspuren wir den Impuls, etwas zu tun, irgendetwas – egal ob es hilft oder nicht. Danach fuhlen wir uns besser, selbst wenn sich nichts zum Besseren gewendet hat. Oft ist das Gegenteil der Fall. Kurzum, wir handeln tendenziell zu schnell und zu oft. Daher: Wenn die Situation unklar ist, unternehmen Sie nichts, gar nichts, bis Sie die Situation besser einschatzen konnen. Halten Sie sich zuruck. »Das ganze Ungluck der Menschen besteht darin, dass sie nicht in der Lage sind, ruhig in ihrem Zimmer zu bleiben«, schrieb schon Blaise Pascal. Zu Hause, in seiner Schreibstube.
Warum Sie entweder die Losung sind – oder das Problem
Zwei Bergsteiger. Der erste fallt in eine Gletscherspalte. Sie konnten ihn retten, indem Sie Hilfe organisieren, tun es aber nicht, und folglich stirbt er. Den zweiten sto?en Sie aktiv in die Gletscherspalte. Auch er stirbt nach kurzer Zeit. Welche Tat wiegt schwerer? Rational betrachtet sind beide Taten gleich verwerflich. Die Unterlassung der Hilfe als auch der aktive Mord – sie fuhren beide zum Tod. Und doch sagt uns irgendein Gefuhl, dass die Unterlassung weniger schlimm wiegt. Dieses Gefuhl nennt man Omission Bias (deutsch: Unterlassungsirrtum). Der Omission Bias tritt immer dort auf, wo sowohl eine Unterlassung als auch eine Handlung zu Schaden fuhren konnen. Dann wird meist die Unterlassung gewahlt, weil die so verursachten Schaden subjektiv harmloser scheinen.
Angenommen, Sie sind der Chef der Medikamentenzulassungsbehorde Ihres Landes. Sie stehen vor der Entscheidung, ob ein Medikament fur Todkranke zugelassen werden soll. Das Medikament hat starke Nebeneffekte. Es totet 20 % der Patienten auf der Stelle, rettet aber das Leben von 80 % in kurzer Frist. Wie entscheiden Sie?
Wenn Sie so ticken wie die meisten, verbieten Sie die Zulassung. Ein Medikament, das jeden Funften auf der Stelle hinrafft, empfinden Sie als schlimmer als die Tatsache, dass 80 % der Patienten, die hatten gerettet werden konnen, nun eben nicht gerettet werden. Eine absurde Entscheidung, aber im Einklang mit dem Omission Bias. Angenommen, Sie sind sich des Omission Bias bewusst und entschlie?en sich im Namen der Vernunft und der Moral dazu, das Medikament doch zuzulassen. Was passiert, wenn, wie vorausgesehen, der erste Patient daran stirbt? Ein Aufschrei geht durch die Presse, und Sie sind Ihren Job los. Als Beamter oder Politiker tun sie gut daran, den Omission Bias im Volk ernst zu nehmen – und selbst zu pflegen.
Wie fix diese »moralische Verzerrung« in unseren Kopfen festsitzt, zeigt die Rechtsprechung. Aktive Sterbehilfe, auch wenn sie dem ausdrucklichen Wunsch des Sterbenden entspricht, ist in Deutschland und in der Schweiz strafbar, wahrend der vorsatzliche Verzicht auf lebenserhaltende Ma?nahmen straflos bleibt.
Der Omission Bias erklart, warum Eltern manchmal zogern, ihre Kinder impfen zu lassen, obwohl die Impfung das Krankheitsrisiko nachweislich senkt. Objektiv betrachtet musste man diese Eltern der aktiven Schadigung der Kinder bezichtigen, falls die Kinder dann tatsachlich erkranken. Aber eben: Vorsatzliche Unterlassung empfinden wir als weniger schlimm als eine verwerfliche, aktive Handlung.
Der Omission Bias erklart, warum wir viel lieber jemanden ins Messer laufen lassen, als ihm direkt Schaden zuzufugen. Keine neuen Produkte zu entwickeln, empfinden Investoren und Wirtschaftsjournalisten als weniger schlimm, als falsche Produkte zu entwickeln, auch wenn beides zum Bankrott der Firma fuhrt. Auf einem Bundel miserabler Aktien sitzen zu bleiben, die wir vor Jahren geerbt haben, empfinden wir als weniger schlimm, als die falschen Aktien gekauft zu haben. Keine Abgaswaschanlage in einem Kohlekraftwerk einzubauen, ist weniger schlimm, als die Abgaswaschanlage aus Kostengrunden zu entfernen. Das eigene Haus nicht zu isolieren, ist weniger schlimm, als das Heizol, das damit hatte eingespart werden konnen, als offenes Feuer zur eigenen Belustigung zu verbrennen. Einkommen einfach nicht zu deklarieren, ist weniger schlimm, als Steuerdokumente zu falschen – obwohl das Resultat dasselbe ist.
Im vorherigen Kapitel haben wir den Action Bias kennengelernt. Ist er das Gegenteil zum Omission Bias? Nicht ganz. Der Action Bias kommt ins Spiel, wenn eine Situation unklar, widerspruchlich, opak ist. Dann tendieren wir zu Umtriebigkeit, auch wenn es keinen vernunftigen Grund dafur gibt. Beim Omission Bias ist die Situation meistens