Dass unser Hirn Muhe mit prozentualem Wachstum hat, war schon im alten Persien bekannt. Von dort stammt dieses Marchen: Es war einmal ein kluger Hofling, der seinem Konig ein Schachbrett schenkte. Der Konig fragte ihn: »Sage mir, wie ich dich zum Dank belohnen kann.« »Nichts weiter will ich, edler Gebieter, als dass Ihr das Schachbrett mit Reis auffullen moget. Legt ein Reiskorn auf das erste Feld, und dann auf jedes weitere Feld stets die doppelte Anzahl an Kornern. Also zwei Reiskorner auf das zweite Feld, vier Reiskorner auf das dritte und so fort.« Der Konig war erstaunt: »Es ehrt dich, lieber Hofling, dass du einen so bescheidenen Wunsch au?erst.« Wie viel Reis ist das? Der Konig dachte wohl an ein Sackchen. In Wahrheit hatte er mehr Reis gebraucht, als auf der Erde wachst.

Fazit: Wenn es um Wachstumsraten geht, vertrauen Sie nicht auf Ihr Gefuhl. Sie haben keines – akzeptieren Sie das. Was Ihnen wirklich hilft, ist der Taschenrechner, oder, bei kleinen Wachstumsraten, der Trick mit der Verdopplungszeit.

THE WINNER’S CURSE

Wie viel wurden Sie fur einen Euro bezahlen?

Texas, in den 50er-Jahren. Ein Stuck Land wird versteigert. Zehn Olfirmen bieten mit. Jede hat ihre eigene Schatzung gemacht, wie viel Ol das Grundstuck enthalt. Die tiefste Schatzung liegt bei zehn Millionen Dollar, die hochste bei 100 Millionen Dollar. Je hoher der Preis wahrend der Auktion klettert, desto mehr Firmen verabschieden sich aus dem Bieterwettkampf. Schlie?lich bekommt die Firma mit dem hochsten Angebot den Zuschlag. Sie ist ubrig geblieben, hat gewonnen. Champagnerkorken knallen.

The Winner’s Curse (deutsch: der Fluch des Gewinners) besagt: Der Gewinner einer Auktion ist meistens der eigentliche Verlierer. Industrieanalysten stellten fest, dass die Firmen, die regelma?ig als Gewinner aus den Olfeldauktionen hervorgingen, systematisch zu viel bezahlten und Jahre spater daran zugrunde gingen. Das ist nachvollziehbar. Wenn die Schatzungen zwischen zehn und 100 Millionen variieren, wird der wirkliche Wert wahrscheinlich irgendwo dazwischen liegen. Das hochste Angebot ist bei Auktionen oft systematisch zu hoch – es sei denn, dieser Bieter hatte einen Informationsvorsprung. Das war damals in Texas nicht der Fall. Die Olmanager feierten in Wahrheit einen Pyrrhussieg.

Wo sind die Olfelder heute? Uberall. Von eBay uber Groupon bis hin zu Google AdWords – durchweg werden Preise uber Auktionen festgesetzt. Es gibt Bieterwettkampfe um Mobilfunkfrequenzen, die Telekomfirmen an den Rand des Ruins bringen. Flughafen vermieten ihre Ladenflachen im Auktionsverfahren. Und wenn Aldi ein neues Waschmittel einfuhren will und Offerten von funf Lieferanten einfordert, ist das nichts anderes als eine Auktion – mit der Gefahr des Winner’s Curse.

Die »Auktionierung des Alltags« hat dank Internet mittlerweile auch die Handwerker erreicht. Meine Wohnung brauchte einen neuen Anstrich. Statt den nachstbesten Maler in Luzern anzurufen, stellte ich den Job ins Internet, wo sich 30 Anbieter aus der ganzen Schweiz und Deutschland um den Auftrag stritten. Das beste Angebot war so tief, dass ich es aus Erbarmen nicht annahm – um dem armen Maler den Winner’s Curse zu ersparen.

Auch Borsengange sind Auktionen, bei denen uberrissene Preise bezahlt werden. Und wenn Firmen andere Firmen kaufen – sogenannte Mergers & Acquisitions – ist vielfach der Winner’s Curse im Spiel. Mehr als die Halfte aller Firmenkaufe vernichten Wert, was nichts anderes bedeutet, als dass sich ihr Kauf nicht im Geringsten gelohnt hat.

Warum fallen wir dem Winner’s Curse zum Opfer? Zum einen, weil der wirkliche Wert eines Gutes unbestimmt ist. Je mehr Parteien, desto hoher die Wahrscheinlichkeit einer uberoptimistischen Offerte. Zum anderen, weil wir Konkurrenten ausstechen wollen. Ein Freund besitzt eine Fabrik fur Mikroantennen. Er hat mir vom ruinosen Bieterwettkampf erzahlt, den Apple fur das iPhone veranstaltet. Jeder will der »offizielle Lieferant« von Apple sein – und wer auch immer den Zuschlag erhalt, wird garantiert Geld verlieren.

Wie viel wurden Sie fur 100 Euro bezahlen? Stellen Sie sich vor, Sie und Ihr Konkurrent seien zu einer solchen Auktion eingeladen. Die Spielregeln: Wer das hochste Angebot abgibt, erhalt die Hunderternote; und – das ist wichtig – beide Bieter mussen in diesem Moment ihr letztes Angebot bezahlen. Wie hoch werden Sie gehen? Aus Ihrer Sicht macht es Sinn, 20, 30 oder 40 Euro fur die Hunderternote zu bezahlen. Ihr Konkurrent sieht das naturlich genauso. Selbst 99 Euro ist ein sinnvolles Angebot. Nun bietet Ihr Konkurrent 100 Euro. Wenn dies das hochste Angebot bliebe, kame er mit einem Nullgewinn heraus (100 Euro fur 100 Euro), doch Sie mussten die 99 Euro (Ihr letztes Angebot) bezahlen – ohne Gegenwert. Also werden Sie weiter bieten. Bei 110 haben Sie einen garantierten Verlust von zehn Euro, doch Ihr Konkurrent verliert 110. Also wird auch er weiter bieten. Wo horen Sie auf? Wo hort Ihr Konkurrent auf? Spielen Sie es mal durch mit Freunden.

Beherzigen Sie den Tipp von Warren Buffett: »Nehmen Sie niemals an Auktionen teil.« Geht nicht, Sie arbeiten in einer Branche, in der Auktionen unumganglich sind? Dann legen Sie einen Hochstpreis fest und ziehen davon 20 % fur den Winner’s-Curse-Effekt ab. Schreiben Sie diese Zahl auf ein Blatt Papier und halten Sie sich eisern daran.

DER FUNDAMENTALE ATTRIBUTIONSFEHLER

Fragen Sie nie einen Schriftsteller, ob der Roman autobiografisch sei

Sie schlagen die Zeitung auf und lesen, dass irgendein CEO wegen schlechten Geschaftsgangs den Hut nehmen musste. Im Sportteil erfahren Sie, dass Ihre Lieblingsmannschaft wegen des Spielers X oder des Trainers Y Meister geworden ist. »Keine Geschichte ohne Gesicht« lautet eine Regel in den Zeitungsredaktionen. Die Journalisten (und ihre Leser) machen sich des fundamentalen Attributionsfehlers schuldig. Er bezeichnet die Tendenz, den Einfluss von Personen systematisch zu uberschatzen und au?ere, situative Faktoren zu unterschatzen, wenn es darum geht, irgendetwas zu erklaren.

Forscher der Duke University fuhrten 1967 folgendes Experiment durch. Ein Redner hielt eine flammende Rede fur Fidel Castro. Die Versuchspersonen wurden informiert, dass dem Redner die Rede unabhangig von seiner politischen Ansicht zugeteilt worden war, er verlas nur einen ihm vorgelegten Text. Trotzdem waren die meisten Zuhorer der Ansicht, die Rede spiegle die Meinung des Redners wider. Sie machten seine Personlichkeit fur den Inhalt der Rede verantwortlich, und nicht externe Faktoren, also die Professoren, die sie ihm in den Mund gelegt hatten.

Der Attributionsfehler kommt besonders bei negativen Ereignissen zum Tragen. Die »Schuld« an Kriegen schieben wir Personen in die Schuhe – Hitler hat den Zweiten Weltkrieg auf dem Gewissen, der Attentater von Sarajewo den Ersten. Und das, obwohl Kriege unprognostizierbare Ereignisse sind, deren Dynamik wir bis heute nicht verstehen – was Kriege mit Finanzmarkten und Klimafragen verbindet.

Die Ursache fur den guten oder schlechten Geschaftsgang suchen wir also zuerst beim Chef des Unternehmens. Selbst wenn wir eigentlich wissen mussten, dass okonomischer Erfolg weit starker von der allgemeinen Wirtschaftslage und der Attraktivitat der Branche abhangt als von fuhrungstechnischer Brillanz. Es ist interessant, wie haufig CEOs in einer kriselnden Branche ausgewechselt werden – und wie selten das in einer Boombranche passiert. Die Entscheidungen sind kein bisschen rationaler als bei Fu?balltrainern und ihren Klubs.

Ich gehe oft in Konzerte; als Luzerner bin ich vom einzigartigen Klassikangebot in dieser Stadt verwohnt. Die Gesprache in der Pause kreisen fast immer um den Dirigenten und/oder den Solisten. Mit Ausnahme von Urauffuhrungen wird kaum je uber die Komposition gesprochen. Warum denn nicht? Das eigentliche Wunder der Musik ist doch die Komposition, das Erschaffen von Stimmungen, wo vorher nur ein wei?es Blatt war. Der Unterschied von einer Partitur zur andern ist tausendmal eindrucklicher als der Unterschied von einer Interpretation zur andern. Aber so ticken wir nicht. Die Partitur hat – im Gegensatz zum Dirigenten und/oder Solisten – kein Gesicht.

Als Schriftsteller erlebe ich den Attributionsfehler so: Nach einer Lesung (an sich schon ein zweifelhaftes Unterfangen) lautet die erste Frage immer, wirklich immer: »Was an Ihrem Roman ist autobiografisch?« Am liebsten wurde ich in die Runde schreien: »Es geht doch nicht um mich, es geht um das Buch, um den Text, um die Sprache, um die Glaubwurdigkeit der Geschichte, verdammt noch mal!« Leider erlaubt mir meine Erziehung einen solchen Ausbruch nur selten.

Au?erdem muss man fur den Attributionsfehler Verstandnis haben: Die irrsinnige Beschaftigung mit anderen Menschen stammt aus unserer evolutionaren Vergangenheit. Die Zugehorigkeit zu einer

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