zu Attila, falls es Sie interessiert: im Jahr 541.)

Noch ein Experiment: Studenten und Immobilienprofis wurden durch ein Haus gefuhrt und anschlie?end gebeten, den Wert dieses Hauses zu schatzen. Zuvor wurde ihnen ein (zufallig generierter) »gelisteter Verkaufspreis« kommuniziert. Wie zu erwarten: Die Studenten, also die Nichtprofis, lie?en sich von dem Anker beeinflussen. Je hoher der Listenpreis, desto teurer bewerteten sie die Immobilie. Und die Immobilienprofis – urteilten sie unabhangig? Nein, sie lie?en sich im gleichen Ausma? durch den willkurlich gesetzten Anker beeinflussen. Je unbestimmbarer der Wert eines Objekts – Immobilie, Firma, Kunstwerk –, desto anfalliger sind selbst Profis fur Anker.

Anker zuhauf, und wir alle klammern uns daran. Wissenschaftlich nachgewiesen: Falls ein Lehrer die vergangenen Schulnoten eines Studenten kennt, beeinflussen sie, wie er dessen neue Arbeiten benotet. Die vergangenen Zeugnisse wirken als Anker. Auch der bei vielen Produkten aufgedruckte »empfohlene Verkaufspreis« ist nichts anderes als ein Anker. Verkaufsprofis wissen, dass sie fruhzeitig einen Anker setzen mussen – weit bevor sie eine Offerte machen.

Ich arbeitete in meinen jungen Jahren bei einer Beratungsfirma. Mein damaliger Chef war ein richtiger Anker-Profi. Schon beim ersten Kundengesprach setzte er einen Anker, der fast schon kriminell weit uber den internen Kosten lag: »Nur damit Sie dann nicht uberrascht sind, lieber Herr Kunde, wenn Sie die Offerte erhalten: Wir haben ein ahnliches Projekt fur einen Ihrer Konkurrenten gemacht, und das lag im Bereich von funf Millionen Euro.« Anker gesetzt. Die Preisverhandlungen starteten genau bei funf Millionen.

DIE INDUKTION

Wie Sie Leute um ihre Millionen bringen

Eine Gans wird gefuttert. Anfangs zogert das scheue Tier und denkt: »Warum futtern mich diese Menschen? Irgendetwas muss doch dahinterstecken.« Wochen vergehen, doch jeden Tag kommt der Bauer vorbei und wirft ihr Getreidekorner vor die Fu?e. Ihre Skepsis lasst allmahlich nach. Nach einigen Monaten ist sich die Gans sicher: »Die Menschen sind mir zutiefst gutgesinnt!« – eine Gewissheit, die sich jeden Tag aufs Neue bestatigt, ja festigt. Vollends uberzeugt von der Gute des Bauern staunt sie, als sie dieser am Weihnachtstag aus ihrem Gehege holt – und schlachtet. Die Weihnachtsgans ist dem induktiven Denken zum Opfer gefallen. Schon David Hume hat im 18. Jahrhundert vor der Induktion gewarnt, mit ebendiesem Beispiel. Aber nicht nur Ganse sind anfallig dafur. Wir alle haben die Tendenz, aus Einzelbeobachtungen auf allgemeingultige Gewissheiten zu schlie?en. Das ist gefahrlich.

Ein Anleger hat Aktie X gekauft. Der Kurs geht ab wie eine Rakete. Anfanglich ist er skeptisch. »Sicher eine Blase«, denkt er. Als die Aktie auch nach Monaten noch zulegt, wird seine Vermutung zur Gewissheit: »Dieser Titel kann gar nicht mehr absturzen« – zumal jeder Tag diese Erkenntnis aufs Neue bestatigt. Nach einem halben Jahr investiert er seine ganzen Ersparnisse in diesen einen Aktientitel. Jetzt sitzt er auf einem Klumpenrisiko. Er ist der Induktion zum Opfer gefallen und wird irgendwann dafur bu?en.

Man kann sich das induktive Denken auch zunutze machen. Hier ist ein Tipp, wie Sie damit anderen Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Verschicken Sie 100.000 Borsenprognosen. In der Halfte ihrer E-Mails prognostizieren Sie, dass die Kurse im kommenden Monat steigen werden, in der anderen Halfte warnen Sie vor einem Ruckgang. Angenommen, nach einem Monat sind die Indizes gesunken. Nun verschicken Sie wieder eine E-Mail, aber diesmal nur an die 50.000 Leute, denen Sie eine richtige Vorhersage gemacht hatten (dass die Kurse sinken wurden). Diese 50.000 teilen Sie wieder in zwei Gruppen. Der ersten Halfte schreiben Sie, dass die Kurse im kommenden Monat steigen werden, der zweiten Halfte, dass sie fallen werden, und so weiter. Nach zehn Monaten bleiben 100 Personen ubrig, die Sie ohne Fehl richtig beraten haben. Aus Sicht dieser 100 Personen sind Sie ein Held. Sie haben bewiesen, dass Sie im Besitz wahrlich prophetischer Prognosefahigkeiten sind. Einige dieser Fans werden Ihnen ihr Vermogen anvertrauen. Mit dem Geld setzen Sie sich nach Brasilien ab.

Nicht nur andere lassen sich so betrugen, wir betrugen uns auch selbst. Menschen, die selten krank sind, halten sich fur unsterblich. Ein CEO, der viele Quartale nacheinander eine Gewinnsteigerung bekannt geben darf, halt sich fur unfehlbar – und seine Mitarbeiter und Aktionare ihn auch.

Ich hatte einen Freund, er war Base Jumper. Er sprang von Felsen, Sendemasten und Gebauden, wobei er erst im letzten Moment die Rei?leine des Fallschirms zog. Als ich ihn einmal auf das Risiko seines Sports ansprach, antwortete er: »Ich habe schon uber 1.000 Sprunge hinter mir. Noch nie ist etwas passiert.« Zwei Monate nach unserer Konversation war er tot. Er starb, als er in Sudafrika von einem besonders gefahrlichen Felsen sprang. Eine einzige gegenteilige Beobachtung genugt, um eine tausendmal bestatigte Theorie vom Tisch zu fegen.

Induktives Denken kann also verheerende Folgen haben – und doch geht es nicht ohne. Wir bauen darauf, dass die aerodynamischen Gesetze auch morgen funktionieren, wenn wir den Flieger besteigen. Wir rechnen damit, dass wir auf der Stra?e nicht grundlos niedergeprugelt werden. Wir rechnen damit, dass unser Herz auch morgen schlagen wird. Das sind Gewissheiten, ohne die wir nicht leben konnten. Wir brauchen die Induktion, aber wir durfen nie vergessen, dass samtliche Gewissheiten immer nur vorlaufig sind. Wie sagte Benjamin Franklin? »Nichts ist sicher, au?er der Tod und die Steuern.«

Induktion kann verfuhrerisch sein: »Die Menschheit hat es noch immer geschafft, also werden wir auch die zukunftigen Herausforderungen meistern.« Klingt gut, aber was wir nicht bedenken: Diese Aussage kann nur eine Spezies machen, die bis jetzt uberlebt hat. Die Tatsache, dass es uns gibt, als Hinweis zu nehmen, dass es uns auch in Zukunft geben wird, ist ein gravierender Denkfehler. Vermutlich der gravierendste.

DIE VERLUSTAVERSION

Warum uns bose Gesichter schneller auffallen als freundliche

Uberlegen Sie sich, wie gut Sie sich heute fuhlen – auf einer Skala von 1 bis 10. Dazu zwei Fragen: Erstens, was wurde Ihre Gluckseligkeit auf Stufe 10 hochdrehen? Vielleicht die Ferienwohnung an der Cote d’Azur, von der Sie schon lange traumen? Ein Schritt auf der Karriereleiter? Zweitens, was konnte eintreten, das Ihre Gluckseligkeit im mindestens gleichen Ausma? vermindern wurde – Querschnittslahmung, Alzheimer, Krebs, Depression, Krieg, Hunger, Folter, finanzieller Ruin, Schadigung Ihres guten Rufes, Verlust Ihres besten Freundes, Entfuhrung Ihrer Kinder, Blindheit, Tod? Sie stellen fest: Die »Downside« ist gro?er als die »Upside«, es gibt mehr Schlechtes als Gutes. Das war in unserer evolutionaren Vergangenheit noch viel ausgepragter der Fall. Ein dummer Fehler, und man war tot. Alles Mogliche fuhrte zum schnellen Ausscheiden aus dem »Spiel des Lebens« – Unachtsamkeit auf der Jagd, eine entzundete Sehne, der Ausschluss aus der Gruppe.  Menschen, die unachtsam waren oder gro?e Risiken eingingen, starben, bevor sie ihre Gene an die nachste Generation weitergeben konnten. Jene, die ubrig blieben, die Vorsichtigen, haben uberlebt. Wir sind deren Nachkommen.

Kein Wunder, werten wir Verluste starker, als wir Gewinne schatzen. Wenn Sie 100 Euro verlieren, kostet Sie das ein gro?eres Quantum Gluckseligkeit, als Sie gewinnen, wenn ich Ihnen 100 Euro schenke. Empirisch erwiesen: Ein Verlust wiegt emotional etwa doppelt so schwer wie ein Gewinn der gleichen Gro?e. Die Wissenschaft nennt das Verlustaversion.

Wenn Sie jemanden uberzeugen wollen, argumentieren Sie deshalb nicht mit einem moglichen Gewinn, sondern mit dem Vermeiden eines moglichen Verlustes. Hier das Beispiel einer Kampagne zur Fruherkennung von Brustkrebs bei Frauen. Zwei verschiedene Flugblatter wurden verschickt. Flugblatt A argumentierte: »Lassen Sie sich jahrlich auf Brustkrebs untersuchen. Damit kann ein moglicher Krebs fruhzeitig entdeckt und entfernt werden.« Flugblatt B: »Wenn Sie sich nicht jahrlich auf Brustkrebs untersuchen lassen, riskieren Sie, dass ein moglicher Krebs nicht fruh genug entdeckt und entfernt werden kann.« Auf jedem Flugblatt stand eine Telefonnummer fur zusatzliche Informationen. Die Auswertung zeigte: Leserinnen des Flugblatts B riefen viel ofter an.

Die Angst, etwas zu verlieren, motiviert Menschen starker als der Gedanke, etwas von gleichem Wert zu gewinnen. Angenommen, Sie stellen Isolationsmaterial fur Immobilien her. Dann sind Ihre Kunden eher bereit, ihr Haus zu isolieren, wenn Sie ihnen sagen, wie viel Geld sie mit mangelnder Isolation verlieren konnten – als wie viel Geld sie mit guter Isolation sparen konnten. Auch wenn der Betrag naturlich genau derselbe ist.

Dasselbe Spiel an der Borse: Investoren haben die Tendenz, Verluste nicht zu realisieren, sondern lieber noch

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