zuzuwarten und zu hoffen, dass sich ihre Aktie wieder erholt. Ein nicht realisierter Verlust ist eben noch kein Verlust. Also verkaufen sie nicht, selbst wenn die Aussicht auf eine Erholung klein und die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Kursruckgangs gro? ist. Ich habe mal einen Mann kennengelernt, einen Multimillionar, der sich gerade furchterlich aufregte, weil er einen 100-Euro-Schein verloren hatte. Welche Verschwendung von Emotionen! Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass der Wert seines Portfolios in jeder Sekunde um mindestens 100 Euro schwankte.

Mitarbeiter (falls sie allein verantwortlich sind und nicht in Gruppen entscheiden) sind tendenziell risikoscheu. Aus ihrer Warte macht das Sinn: Warum etwas wagen, das ihnen bestenfalls einen schonen Bonus beschert, im anderen Fall jedoch die Stelle kostet? In fast allen Firmen und fast allen Fallen ubersteigt das Karriererisiko den moglichen Gewinn. Wenn Sie sich als Vorgesetzter also uber die mangelnde Risikobereitschaft Ihrer Mitarbeiter beklagen, wissen Sie jetzt, warum. Wegen der Verlustaversion.

Wir konnen es nicht andern: Bose ist starker als Gut. Wir reagieren sensibler auf negative Dinge als auf positive. Ein unfreundliches Gesicht fallt uns auf der Stra?e schneller auf als ein freundliches. Schlechtes Verhalten bleibt uns langer in Erinnerung als gutes. Mit einer Ausnahme naturlich: Wenn es um uns selbst geht.

SOCIAL LOAFING

Warum Teams faul sind

Maximilian Ringelmann, ein franzosischer Ingenieur, untersuchte 1913 die Leistung von Pferden. Er fand heraus: Die Leistung zweier Zugtiere, die gemeinsam einer Kutsche vorgespannt werden, ist nicht doppelt so hoch wie die Leistung eines einzelnen Pferds. Uberrascht von diesem Resultat, dehnte er seine Untersuchung auf Menschen aus. Er lie? mehrere Manner an einem Tau ziehen und ma? die Kraft, die jeder einzelne entfaltete. Im Durchschnitt investierten Personen, die zu zweit an einem Tau zogen, nur je 93 % der Kraft eines einzelnen Tauziehers; wenn sie zu dritt zogen, waren es 85 %, bei acht Personen nur noch 49 %.

Au?er Psychologen uberrascht dieses Ergebnis niemanden. Die Wissenschaft nennt den Effekt Social Loafing (auf Deutsch etwa: soziales Faulenzen). Er tritt auf, wo die Leistung des Einzelnen nicht direkt sichtbar ist, sondern mit der Gruppe verschmilzt. Es gibt Social Loafing bei Ruderern, nicht aber bei Stafettenlaufern, weil hier die einzelnen Beitrage offenkundig sind. Social Loafing ist ein rationales Verhalten: Warum die volle Kraft investieren, wenn es auch mit der halben geht, ohne dass es auffallt? Kurzum, Social Loafing ist eine Form von Betrug, der wir uns alle schuldig machen. Meistens nicht mal absichtlich. Der Betrug lauft unbewusst ab – wie bei den Pferden.

Uberraschend ist nicht, dass die individuelle Leistung zuruckgeht, je mehr Leute an einem Strick ziehen. Uberraschend ist, dass sie nicht auf null fallt. Warum nicht totales Faulenzen? Weil die Nullleistung auffallen wurde – mit allen Konsequenzen wie Ausschluss aus der Gruppe oder Rufschadigung. Wir haben ein feines Gespur entwickelt, bis zu welchem Grad das Faulenzen unsichtbar bleibt.

Social Loafing kommt nicht nur bei korperlichen Leistungen vor. Auch geistig faulenzen wir, zum Beispiel in Sitzungen. Je gro?er das Team, desto schwacher unsere individuelle Beteiligung – wobei die Leistung bei einer gewissen Gruppengro?e ein Niveau erreicht, ab der sie nicht weiter sinkt. Ob die Gruppe aus 20 oder 100 Leuten besteht, spielt keine Rolle mehr, der maximale Faulenzgrad ist erreicht.

So weit, so klar. Woher aber kommt die seit vielen Jahren wiederholte Behauptung, Teams seien besser als Einzelkampfer? Vielleicht aus Japan. Die Japaner uberfluteten vor 30 Jahren die Weltmarkte mit ihren Produkten. Betriebswirte schauten sich das Industriewunder genauer an und sahen: Japanische Fabriken waren in Teams organisiert. Genau dieses Modell kopierte man – mit gemischtem Erfolg. Was in Japan ganz gut funktionierte (meine These: Social Loafing kommt dort kaum vor), war mit den andersdenkenden Amerikanern und Europaern nicht in dem Ausma? wiederholbar. Teams sind zumindest hierzulande nachweislich besser, wenn sie aus moglichst unterschiedlichen, spezialisierten Menschen bestehen. Macht Sinn, denn bei solchen Gruppen konnen die einzelnen Leistungen auf die Spezialisten zuruckgefuhrt werden.

Social Loafing hat interessante Auswirkungen. In Gruppen halten wir uns nicht nur mit unseren Leistungen zuruck, sondern auch mit Verantwortung. Niemand will schuld an den schlechten Ergebnissen sein. Ein krasses Beispiel waren die Nurnberger Prozesse gegen die Nazis, weniger brisante gibt es in jedem Aufsichtsrat oder Managementteam. Man versteckt sich hinter den Beschlussen der Gruppe. Der Fachbegriff dafur lautet Verantwortungsdiffusion.

Aus demselben Grund tendieren Gruppen dazu, hohere Risiken einzugehen als Einzelpersonen. Diesen Effekt nennt man Risky Shift, also eine Verlagerung hin zum Risiko. Gruppendiskussionen fuhren nachweislich dazu, dass riskantere Entscheidungen beschlossen werden, als die Personen allein fur sich gefallt hatten. »Ich trage ja nicht die ganze Schuld, wenn es schiefgeht.« Gefahrlich ist der Risky Shift bei Strategieteams von Firmen und Pensionskassen, wo es um Milliarden geht, oder in der Armee, wo Teams uber den Einsatz von Atomwaffen entscheiden.

Fazit: Menschen verhalten sich anders in Gruppen, als wenn sie allein sind (sonst gabe es keine Gruppen). Die Nachteile von Gruppen lassen sich entscharfen, indem wir die individuellen Leistungen moglichst sichtbar machen. Es lebe die Meritokratie, es lebe die Leistungsgesellschaft!

DAS EXPONENTIELLE WACHSTUM

Warum ein gefaltetes Blatt unser Denken ubersteigt

Ein Stuck Papier wird in der Mitte gefaltet, dann wieder in der Mitte gefaltet und wieder und wieder. Wie dick wird es nach 50-mal falten, sein? Schreiben Sie Ihre Schatzung auf, bevor Sie weiterlesen.

Zweite Frage. Sie durfen wahlen: A) In den nachsten 30 Tagen schenke ich Ihnen jeden Tag 1.000 Euro. B) In den nachsten 30 Tagen schenke ich Ihnen am ersten Tag einen Cent, am zweiten Tag zwei Cent, am dritten Tag vier Cent, am vierten Tag acht und so weiter. Entscheiden Sie, ohne lang zu rechnen: A oder B.

Sind Sie so weit? Also gut: Wenn wir annehmen, dass ein Blatt Papier ein Zehntelmillimeter dunn ist, dann betragt seine Dicke nach 50 Faltungen 100 Millionen Kilometer. Das entspricht etwa der Distanz Erde–Sonne, wie Sie mit einem Taschenrechner leicht nachrechnen konnen. Bei der zweiten Frage lohnt es sich, auf Antwort B zu setzen, auch wenn A verlockender klingt. Wahlen Sie A, haben Sie nach 30 Tagen 30.000 Euro verdient, bei Antwort B uber zehn Millionen.

Lineares Wachstum verstehen wir intuitiv. Doch wir haben kein Gefuhl fur exponentielles (oder prozentuales) Wachstum. Warum nicht? Weil die evolutionare Vergangenheit uns nicht darauf vorbereitet hat. Die Erfahrungen unserer Vorfahren waren gro?tenteils linearer Art. Wer doppelt so viel Zeit aufs Sammeln investierte, brachte die doppelte Menge Beeren ein. Wer gleich zwei Mammuts uber den Abgrund jagte statt nur eines, zehrte doppelt so lange davon. Es gibt kaum ein Beispiel aus der Steinzeit, wo Menschen exponentiellem Wachstum begegnet waren. Heute ist das anders.

Ein Politiker sagt: »Die Anzahl der Verkehrsunfalle steigt jedes Jahr um 7 %.« Seien wir ehrlich, intuitiv verstehen wir das nicht. Wenden Sie deshalb einen Trick an: Berechnen Sie die Verdopplungszeit. Teilen Sie die Zahl 70 durch die Wachstumsrate in Prozent. Im besagten Fall der Verkehrsunfalle: 70 : 7 = 10 Jahre. Was der Politiker also sagt: »Die Anzahl der Verkehrsunfalle verdoppelt sich alle zehn Jahre.« Ziemlich alarmierend.

Ein anderes Beispiel: »Die Teuerung betragt 5 %.« Wer das hort, denkt: »Nicht so schlimm, was sind schon 5 %?« Berechnen wir schnell die Verdopplungszeit: 70 : 5 = 14 Jahre. In 14 Jahren wird ein Euro nur noch die Halfte wert sein – ein Skandal fur alle, die ein Sparkonto besitzen.

Angenommen, Sie sind Journalist und bekommen eine Statistik zugespielt, wonach die Anzahl der registrierten Hunde in Ihrer Stadt um 10 % pro Jahr wachst. Welche Schlagzeile setzen Sie uber Ihren Artikel? Sicher nicht »Hundezulassungen um 10 % gestiegen«. Das interessiert niemanden. Sondern: »Hundeschwemme: Doppelt so viele Koter in nur sieben Jahren!«

Nichts, was prozentual wachst, wachst ewig – auch das vergessen die meisten Politiker, Okonomen und Journalisten. Jedes exponentielle Wachstum kommt irgendwann an eine Grenze – garantiert. Das Darmbakterium Escherichia Coli teilt sich alle 20 Minuten. In wenigen Tagen hatte es die ganze Erde uberzogen. Doch es wird mehr Sauerstoff und Zucker verbrauchen, als neuer zugefuhrt wird, was die Population bald in ihrem Wachstum bremsen wurde.

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