Google sein! Doch ein Blick auf die Base-Rate holt mich wieder auf den Boden zuruck. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Firma die ersten funf Jahre uberlebt, liegt bei 20 %. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie danach zu einem globalen Konzern heranwachst? Fast null. Warren Buffett hat einmal erklart, warum er nicht in Biotechfirmen investiert: »Wie viele dieser Firmen machen einen Umsatz von mehreren Hundert Millionen Dollar? Das kommt einfach nicht vor … Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass diese Firmen irgendwo im Mittelfeld stecken bleiben.« Das ist klares Base-Rate-Denken.

Angenommen, in einem Restaurant sollen Sie durch Degustieren erraten, aus welchem Land ein Wein stammt. Das Etikett der Flasche ist abgedeckt. Falls Sie – wie ich – kein Weinkenner sind, hilft Ihnen nur der geistige Blick in die Base-Rates. Aus Erfahrung wissen Sie, dass etwa drei Viertel der Weine auf der Karte dieses Etablissements franzosischer Herkunft sind. Also tippen Sie vernunftigerweise auf Frankreich, selbst dort, wo Sie einen chilenischen oder kalifornischen Einschlag vermuten.

Ab und zu habe ich die zweifelhafte Ehre, vor BWL-Studenten zu sprechen. Wenn ich die jungen Leute nach ihren Karrierezielen frage, antworten die meisten, dass sie sich mittelfristig im Vorstand einer globalen Firma sehen. Das war zu meiner Zeit und selbst bei mir nicht anders. Daraus wurde dann glucklicherweise nichts. Ich sehe meine Aufgabe darin, den Studenten einen Base-Rate-Crashkurs zu geben: »Die Wahrscheinlichkeit, mit einem Diplom dieser Schule im Vorstand eines Konzerns zu landen, ist niedriger als 1 %. Egal wie intelligent und strebsam Sie sind, das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Sie im Mittelmanagement stecken bleiben.« Dabei ernte ich aufgerissene Augen und bilde mir ein, einen Beitrag zur Abfederung zukunftiger Midlife-Krisen geleistet zu haben.

DER SPIELERFEHLSCHLUSS

Warum es keine ausgleichende Kraft des Schicksals gibt

Im Sommer 1913 geschah in Monte Carlo etwas Unglaubliches. Um den Roulettetisch des Kasinos drangten sich die Menschen, denn sie trauten ihren Augen nicht. Die Kugel war bereits 20-mal nacheinander auf Schwarz gefallen. Viele Spieler nutzten die Gunst der Stunde und wetteten auf Rot. Doch wieder kam Schwarz. Noch mehr Leute stromten hinzu und setzten ihr Geld auf Rot. Jetzt musste es einfach mal einen Wechsel geben! Doch wieder kam Schwarz. Und wieder und wieder. Erst beim 27. Mal fiel die Kugel endlich auf Rot. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Spieler ihre Millionen bereits verwettet. Sie waren bankrott.

Der durchschnittliche Intelligenzquotient der Schuler einer Gro?stadt betragt 100. Fur eine Studie ziehen Sie eine zufallige Stichprobe von 50 Schulern. Das erste Kind, das Sie testen, hat einen IQ von 150. Wie hoch wird der durchschnittliche IQ Ihrer 50 Schuler sein? Die meisten Menschen, denen ich diese Frage stelle, tippen auf 100. Irgendwie, denken sie, musste der superschlaue Schuler, den sie zuerst getestet haben, durch einen superdummen Schuler mit einem IQ von 50 (oder durch zwei Schuler mit einem IQ von 75) ausbalanciert werden. Doch bei einer so kleinen Stichprobe ist das sehr unwahrscheinlich. Man muss damit rechnen, dass die restlichen 49 Schuler dem Durchschnitt der Population entsprechen, dass sie also einen IQ von 100 haben. 49 mal ein IQ von 100 und ein mal ein IQ von 150 ergibt in der Stichprobe einen durchschnittlichen IQ von 101.

Die Beispiele von Monte Carlo und der Schulerstichprobe zeigen: Menschen glauben an eine ausgleichende Kraft des Schicksals. Hier spricht man von Spielerfehlschluss (auf Englisch: Gambler’s Fallacy). Aber bei unabhangigen Ereignissen gibt es keine ausgleichende Kraft. Eine Kugel kann sich nicht daran erinnern, wie oft sie schon auf Schwarz liegen geblieben ist. Ein Freund fuhrt aufwendige Tabellen mit allen gezogenen Lotto-Zahlen. Er fullt den Lottoschein stets so aus, dass er die am seltensten gezogenen Zahlen ankreuzt. Doch die ganze Arbeit ist fur die Katz – Spielerfehlschluss.

Folgender Witz illustriert den Spielerfehlschluss: Ein Mathematiker nimmt auf jedem Flug eine Bombe mit ins Handgepack. »Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Bombe im Flugzeug ist, ist sehr gering«, sagt er, »und die Wahrscheinlichkeit fur zwei Bomben liegt nahezu bei null!«

Eine Munze wird dreimal geworfen, und dreimal landet sie auf Kopf. Angenommen, jemand zwingt Sie, 1.000 Euro Ihres eigenen Geldes fur den nachsten Wurf auszugeben. Wurden Sie auf Kopf oder Zahl setzen? Wenn Sie so ticken wie die meisten Menschen, werden Sie auf Zahl setzen, obwohl Kopf ebenso wahrscheinlich ist – der bekannte Spielerfehlschluss.

Eine Munze wird 50-mal geworfen, und 50-mal landet sie auf Kopf. Wieder zwingt Sie jemand, 1.000 Euro zu setzen. Kopf oder Zahl fur den nachsten Wurf? Smart, wie Sie sind, lacheln Sie, denn Sie haben das Kapitel bis hierher gelesen und wissen, dass es nicht darauf ankommt. Doch das ist die klassische Deformation professionnelle des Berufsmathematikers. Hatten Sie gesunden Menschenverstand, wurden Sie eindeutig auf Kopf setzen, weil Sie schlichtweg annehmen mussen, dass die Munze gezinkt ist.

In einem anderen Kapitel betrachteten wir die Regression zur Mitte. Beispiel: Wenn Sie einen Kalterekord in Ihrem Wohnort erleben, wird die Temperatur in den nachsten Tagen wahrscheinlich ansteigen. Ware das Wetter ein Kasino, wurde die Temperatur mit 50 % Wahrscheinlichkeit fallen und mit 50 % Wahrscheinlichkeit steigen. Doch das Wetter ist kein Kasino. Komplexe Ruckkopplungen sorgen dafur, dass Extremwerte sich wieder ausgleichen. In anderen Fallen allerdings verstarkt sich das Extrem: Reiche werden tendenziell immer reicher. Eine Aktie, die in die Hohe schie?t, schafft sich bis zu einem gewissen Punkt eine eigene Nachfrage, einfach weil sie so heraussticht – eine Art umgekehrter Ausgleichseffekt.

Fazit: Schauen Sie also genau hin, ob Sie abhangige oder unabhangige Ereignisse vor sich haben – diese gibt es eigentlich nur im Kasino, im Lotto und in den Theoriebuchern. Im richtigen Leben sind die Ereignisse meistens voneinander abhangig – was bereits geschehen ist, hat einen Einfluss darauf, was in Zukunft geschehen wird. Also vergessen Sie (au?er in den Regression-zur-Mitte-Fallen) die ausgleichende Kraft des Schicksals.

DER ANKER

Wie uns ein Glucksrad den Kopf verdreht

Wie lautet Martin Luthers Geburtsjahr? Falls Sie es nicht auswendig wissen und die Batterie Ihres Smartphones gerade leer ist, wie gehen Sie vor? Vielleicht wissen Sie, dass Luther im Jahr 1517 seine Thesen an die Kirche von Wittenberg geschlagen hat. Damals war er sicher alter als, sagen wir, 20, aber auch jung genug fur diesen mutigen Akt. Nach der Publikation der Thesen wurde er nach Rom vorgeladen, der Ketzerei beschuldigt, und schlie?lich exkommuniziert. Er ubersetzte die Bibel und geriet in die Fange der Politik. Er lebte also noch eine ganze Weile nach 1517, wird im Jahr 1517 demzufolge rund 30 Jahre alt gewesen sein. Somit ist 1487 keine schlechte Schatzung fur sein Geburtsjahr. (Korrekte Antwort: 1483.) Wie sind Sie vorgegangen? Sie hatten einen Anker, an dem Sie sich halten konnten – namlich das Jahr 1517 – und haben sich von dort aus orientiert.

Wann immer wir etwas schatzen – die Lange des Rheins, die Einwohnerdichte von Russland, die Anzahl Kernkraftwerke in Frankreich –, benutzen wir Anker. Wir nehmen etwas Bekanntes und wagen uns von dort aus ins Unbekannte vor. Wie sonst sollen wir schatzen? Einfach eine Zahl vom Himmel pflucken? Das ware unvernunftig.

Dummerweise setzen wir Anker auch dort ein, wo sie vollkommen haltlos sind. Beispiel: Ein Professor stellte eine unbekannte Flasche Wein auf den Tisch. Die Leute im Saal wurden gebeten, die letzten zwei Stellen ihrer Sozialversicherungsnummer auf ein Blatt Papier zu schreiben und sich dabei zu uberlegen, ob sie bereit waren, diese Zahl in Euro fur die Flasche Wein auszugeben. Anschlie?end wurde die Flasche versteigert. Die Leute mit den hoheren Nummern boten fast doppelt so viel wie die Personen mit den tieferen Nummern. Die Sozialversicherungsnummer funktionierte als Anker – leider unbewusst und auf irrefuhrende Weise.

Der Psychologe Amos Tversky stellte ein Glucksrad auf und lie? die Teilnehmer eines Experiments daran drehen. Danach wurden sie gefragt, wie viele Staaten Mitglied bei der UNO seien. Personen, bei denen das Glucksrad auf einer hohen Zahl stehen blieb, gaben eine hohere Anzahl Mitgliedsstaaten an als Personen, bei denen das Rad auf einer tiefen Zahl stehen blieb.

Die Forscher Russo und Shoemaker fragten Studenten, in welchem Jahr Attila, der Konig der Hunnen, seine vernichtende Niederlage in Europa erlitt. Ahnlich wie beim Versuch mit den Sozialversicherungsnummern wurden die Teilnehmer mit den letzten Stellen ihrer Telefonnummer geankert. Dasselbe Resultat: Personen mit hoheren Telefonnummern setzten auf hohere Jahreszahlen – und umgekehrt. (Die Antwort

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