Stadt zu sehen, wusste sie, dass sie hier zu Hause war. Marseille schien eine fremde Stadt und Paris die Stadt, in die sie gehorte. Es war ein merkwurdiges, berauschendes Gefuhl, und Noelle schwelgte darin, saugte die Gerausche, die Menge, die Erregung formlich in sich ein. Es gehorte alles ihr. Sie brauchte es jetzt nur noch zu fordern. Sie nahm ihr Kofferchen und ging zum Ausgang.
Drau?en im hellen Sonnenschein und in dem wie verruckt hin- und herflitzenden Verkehr zogerte Noelle, denn sie wurde sich plotzlich bewusst, dass sie kein Heim hatte. Ein halbes Dutzend Taxen stand aufgereiht vor dem Bahnhof. Sie stieg in die erste ein.
»Wohin?«
Sie zogerte. »Konnten Sie mir ein nettes, preiswertes Hotel empfehlen?«
Der Fahrer drehte sich um und sah sie abschatzend an. »Sind Sie neu in der Stadt?«
»Ja.«
Er nickte. »Sie werden eine Stelle brauchen, nehme ich an.«
»Ja.«
»Da haben Sie Gluck«, sagte er. »Haben Sie schon mal als Mannequin gearbeitet?«
Noelles Herz hupfte. »Ja, habe ich tatsachlich«, sagte sie.
»Meine Schwester arbeitet fur eines der gro?en Modehauser«, teilte er ihr vertraulich mit. »Gerade heute morgen erwahnte sie, eines der Madchen habe gekundigt. Wollen Sie sehen, ob die Stelle noch frei ist?«
»Das ware wunderbar«, erwiderte Noelle.
»Wenn ich Sie hinfahre, kostet das zehn Francs.«
Sie runzelte die Stirn.
»Es lohnt sich«, versprach er.
»Nun gut.« Sie lehnte sich zuruck. Der Fahrer setzte den Wagen in Gang und fadelte sich in den wahnsinnigen Verkehr in Richtung Stadtzentrum ein. Er schwatzte unentwegt wahrend der Fahrt, aber Noelle horte kein Wort. Sie genoss in vollen Zugen den Anblick ihrer Stadt. Sie nahm an, dass Paris wegen der Verdunkelung gedampfter war als gewohnlich, aber Noelle kam die Stadt wie ein reines Wunder vor. Sie hatte eine ganz eigene Eleganz, einen Stil, ja, sogar einen eigenen Duft. Sie kamen an Notre-Dame vorbei, fuhren uber den Pont Neuf zum rechten Ufer und bogen in Richtung des Marschall Foch Boulevard ein. In der Ferne konnte Noelle den die Stadt beherrschenden Eiffelturm sehen. Durch den Ruckspiegel sah der Fahrer ihren Gesichtsausdruck.
»Hubsch, was?«
»Es ist schon«, antwortete Noelle ruhig. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass sie hier war. Es war ein fur eine Prinzessin geeignetes Konigreich ... fur sie.
Die Taxe hielt vor einem dunkelgrauen Sandsteinhaus in der Rue de Provence.
»Wir sind da«, erklarte der Fahrer. »Das sind zwei Francs auf dem Taxameter und zehn Francs fur mich.«
»Woher soll ich wissen, dass die Stelle noch zu haben ist?« fragte Noelle.
Der Fahrer zuckte die Schultern. »Ich sagte Ihnen ja, das Madchen ist erst heute morgen gegangen. Wenn Sie nicht hineingehen wollen, bringe ich Sie zum Bahnhof zuruck.«
»Nein«, erwiderte Noelle schnell. Sie offnete ihre Handtasche, nahm zwolf Francs heraus und reichte sie dem Fahrer. Der starrte auf das Geld und sah sie dann an. Verlegen langte sie in ihre Tasche und gab ihm' noch einen Franc.
Er nickte und sah zu, wie sie ihr Kofferchen aus der Taxe hob.
Als er wegfahren wollte, fragte Noelle: »Wie hei?t Ihre Schwester?«
»Jeanette.«
Noelle stand am Rinnstein und sah der davonfahrenden Taxe nach. Dann drehte sie sich um und sah sich das Haus an. An der Vorderfront war kein Schild, aber sie nahm an, dass ein fashionables Modehaus kein Schild brauchte. Jedermann wusste, wo er es finden konnte. Sie hob ihr Kofferchen, ging zur Tur und lautete. Einige Augenblicke spater wurde die Tur von einem Dienstmadchen in schwarzer Schurze geoffnet. Sie sah Noelle ausdruckslos an.
»Ja?«
»Entschuldigen Sie«, sagte Noelle, »wie ich hore, ist hier eine Stelle als Mannequin frei.«
Das Madchen starrte sie blinzelnd an.
»Wer hat Sie geschickt?«
»Jeanettes Bruder.«
»Kommen Sie herein.« Sie offnete die Tur weiter, und Noelle trat in eine im Stil um 1800 herum gehaltene Empfangshalle. Ein riesiger Luster hing von der Decke, einige weitere waren in der Halle verteilt, und durch eine offene Tur konnte Noelle ein mit antiken Mobeln eingerichtetes Wohnzimmer und eine nach oben fuhrende Treppe sehen. Auf einem schonen Tisch mit Intarsien lagen Nummern des Figaro und des Echo de Paris. »Warten Sie hier. Ich werde fragen, ob Madame Delys Zeit hat, Sie jetzt zu empfangen.«
»Danke«, sagte Noelle. Sie stellte ihr Kofferchen auf den Boden und trat vor einen gro?en Wandspiegel. Ihre Kleider waren von der Bahnfahrt zerknittert, und plotzlich bedauerte sie, in ihrer Impulsivitat hier hergefahren zu sein, ohne sich vorher frisch gemacht zu haben. Es war wichtig, einen guten Eindruck zu machen. Trotzdem, wie sie sich prufend betrachtete, wusste sie, dass sie schon aussah. Sie wusste dies ohne Einbildung, nahm ihre Schonheit als einen Vermogenswert hin, den man benutzen konnte wie jeden anderen auch. Noelle drehte sich um, als sie im Spiegel ein Madchen die Treppe herunterkommen sah. Das Madchen hatte eine gute Figur und ein hubsches Gesicht, trug einen langen braunen Rock und eine hochgeschlossene Bluse. Offenbar war die Qualitat der Mannequins hier hoch. Sie warf Noelle ein kurzes Lacheln zu und ging ins Wohnzimmer. Einen Augenblick spater trat Madame Delys ein. Sie war eine Vierzigerin, war klein und untersetzt und hatte kalte, berechnende Augen. Sie trug ein Kleid, das nach Noelles Schatzung mindestens zweitausend Francs gekostet haben musste.
»Regina sagte mir, Sie suchen eine Stellung«, sagte sie.
»Ja, Madame«, erwiderte Noelle.
»Wo kommen Sie her?«
»Marseille.«
Madame Delys schnaubte. »Der Lauf stall betrunkener Seeleute.«
Noelle machte ein langes Gesicht.
Madame Delys tatschelte ihr die Schulter. »Macht nichts, meine Liebe. Wie alt sind Sie?«
»Achtzehn.«
Madame Delys nickte. »Das ist gut. Ich glaube, Sie werden meinen Kunden gefallen. Haben Sie Verwandte in Paris?«
»Nein.«
»Ausgezeichnet. Konnen Sie gleich mit der Arbeit beginnen?«
»O ja«, versicherte Noelle eifrig.
Von oben drang das Gerausch von Lachen herunter, und einen Augenblick spater kam ein rothaariges Madchen am Arm eines dicken Mannes mittleren Alters die Treppe herunter. Das Madchen trug nur ein dunnes Neglige.
»Schon fertig?« fragte Madame Delys.
»Ich habe Angela erschopft«, sagte der Mann grinsend. Dann sah er Noelle. »Wer ist diese kleine Schonheit?«
»Das ist Yvette, unser neues Madchen«, sagte Madame Delys und fugte ohne zu zogern hinzu: »Sie kommt aus Antibes, ist die Tochter eines Prinzen.«
»Ich habe noch nie eine Prinzessin gepimpert«, rief der Mann aus. »Wie viel?«
»Funfzig Francs.«
»Machen Sie keine Witze. Drei?ig.«
»Vierzig. Und glauben Sie mir, Sie bekommen etwas fur Ihr Geld.«
»Gemacht.«
Sie drehte sich nach Noelle um. Sie war verschwunden.
Noelle lief stundenlang durch die Stra?en von Paris. Sie schlenderte die Champs-Elysees entlang, die eine Seite hinunter und die andere hinauf, wanderte durch die Lido Arkade und blieb vor jedem Geschaft stehen, um auf die unglaubliche Fulle von Schmuck und Kleidern und Lederwaren und Parfums zu starren, und sie fragte sich,