wie Paris aussah, als es noch keine Knappheit gab. Die in den Schaufenstern ausgestellten Waren waren verwirrend, und wahrend ein Teil von ihr sich wie eine Bauerndirne vorkam, wusste ein anderer Teil, dass diese Dinge ihr eines Tages gehoren wurden. Sie ging durch den Bois und die Rue du Faubourg-St.-Honore hinunter und die Avenue Victor-Hugo entlang, bis sie mude und hungrig wurde. Ihre Handtasche und ihr Kofferchen hatte sie bei Madame Delys zuruckgelassen, hatte aber nicht die Absicht zuruckzugehen. Sie wurde ihre Sachen abholen lassen.

Noelle war von dem, was sich da ereignet hatte, weder schockiert noch aus der Fassung gebracht. Sie kannte einfach den Unterschied zwischen einer Kurtisane und einer Hure. Huren veranderten den Gang der Geschichte nicht; Kurtisanen konnten dies. Inzwischen war sie ohne einen Sou. Sie musste einen Weg finden, sich uber Wasser zu halten, bis sie morgen eine Stelle finden konnte. Die Dammerung begann den Himmel zu streifen, und die Geschaftsleute und Hotelportiers waren eifrig damit beschaftigt, die Verdunkelungsrollos gegen mogliche Luftangriffe herunterzuziehen. Um ihr unmittelbares Problem zu losen, musste Noelle jemanden finden, der ihr ein gutes warmes Abendbrot spendierte. Sie fragte einen Gendarm nach dem Weg und steuerte dann aufs Hotel Crillon zu. Au?en bedeckten absto?ende eiserne Rollladen die Fenster, aber die Halle innen war ein Meisterstuck gedampfter Eleganz, gemutlich und unauffallig. Noelle ging selbstsicher hinein, als ob sie da hingehorte, und nahm in einem Sessel gegenuber dem Aufzug Platz. Sie hatte so etwas noch nie gemacht und war ein bisschen nervos. Aber sie erinnerte sich, wie leicht es gewesen war, mit Auguste Lanchon umzugehen. Die Manner waren wirklich sehr unkompliziert. Es gab nur eine Lehre, die ein Madchen zu beherzigen hatte: Ein Mann war weich, wenn er hart war, und hart, wenn er weich war. Man musste also nur dafur sorgen, dass er hart blieb, bis er einem gab, was man haben wollte. Und als Noelle sich in der Halle umblickte, kam sie zu dem Schluss, dass es ein leichtes sein wurde, die Aufmerksamkeit eines einsamen Mannes auf sich zu ziehen, der vielleicht gerade auf dem Weg zum Abendessen war. »Pardon, Mademoiselle.«

Noelle wandte den Kopf und blickte zu einem gro?en Mann in einem dunklen Anzug auf. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Detektiv gesehen, aber hier hatte sie gar keinen Zweifel.

»Warten Mademoiselle auf jemanden?«

»Ja«, erwiderte Noelle und versuchte, ihre Stimme ruhig zu halten. »Ich warte auf einen Freund.«

Plotzlich war sie sich ihres zerknitterten Kleides und des Fehlens einer Handtasche heftig bewusst.

»Ist Ihr Freund ein Hotelgast?«

Sie bekam es plotzlich mit der Angst zu tun. »Er – ah – nicht eigentlich.«

Er sah Noelle einen Augenblick prufend an und sagte dann in scharfem Ton: »Kann ich Ihren Ausweis sehen?«

»Ich – ich habe ihn nicht bei mir«, stammelte sie.

Der Detektiv sagte: »Wurden Mademoiselle bitte mitkommen?« Er packte sie fest am Arm, und sie stand auf.

In diesem Augenblick nahm jemand ihren anderen Arm und sagte: »Entschuldige, dass ich mich verspatet habe, Cherie, aber du kennst ja diese verdammten Cocktailparties. Man muss sich mit Gewalt losrei?en. Hast du lange gewartet?«

Noelle fuhr erstaunt zu dem Sprecher herum. Es war ein gro?er hagerer, zah wirkender Mann, der eine auslandische, ungewohnte Uniform trug. Er hatte blauschwarzes Haar, und die Farbe seiner Augen war wie eine dunkle, sturmische See, dazu lange, dichte Wimpern. Seine Gesichtszuge glichen dem Bildnis auf einer alten florentinischen Munze. Es war ein unregelma?iges Gesicht, dessen beide Halften nicht ganz zusammenpassten, als ob die Hand des Pragers einen Augenblick ausgerutscht ware. Ein au?erordentlich lebhaftes und veranderliches Gesicht; man hatte den Eindruck, es sei bereit zu lacheln, zu lachen, sich zu verfinstern. Das einzige, was es davor bewahrte, weibisch schon zu sein, war ein kraftiges, maskulines Kinn mit einem tiefen Spalt.

Er machte eine Bewegung zum Detektiv hin. »Hat dieser Mann dich belastigt?« Seine Stimme klang tief, und er sprach franzosisch mit einem ganz leichten Akzent.

»N-nein«, antwortete Noelle verwirrt.

»Verzeihung, Sir«, sagte der Hoteldetektiv. »Ein Missverstandnis. Wir haben seit einiger Zeit hier Arger mit...« Er wandte sich an Noelle. »Entschuldigen Sie bitte, Mademoisel-le.«

Der Fremde drehte sich zu Noelle um. »Nun, ich wei? nicht. Was meinst du?«

Noelle schluckte und nickte schnell.

Der Mann sah den Detektiv an. »Mademoiselle ist gro?zugig. Aber seien Sie in Zukunft vorsichtig.« Er nahm Noelles Arm, und sie gingen auf die Tur zu.

Als sie auf die Stra?e traten, sagte Noelle: »Ich wei? gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Monsieur.«

»Ich konnte Polizisten nie leiden.« Der Fremde grinste. »Soll ich Ihnen eine Taxe besorgen?«

Noelle starrte ihn an, und wieder stieg panischer Schrecken in ihr hoch, als sie sich ihre Lage vergegenwartigte. »Nein.«

»Schon. Gute Nacht.« Er ging zum Stand hinuber und wollte in eine Taxe steigen, blickte sich noch einmal um und sah sie angewurzelt dastehen und ihm nachblicken. Im Hoteleingang stand der Detektiv. Der Fremde zogerte, dann ging er zu Noelle zuruck. »Verschwinden Sie lieber hier«, riet er ihr, »unser

Freund interessiert sich immer noch fur Sie.«

»Ich wei? nicht, wo ich hingehen soll«, erwiderte sie.

Er nickte und fasste in die Tasche.

»Ich mochte Ihr Geld nicht«, sagte sie schnell.

Er sah sie erstaunt an. »Was wollen Sie dann?« fragte er.

»Mit Ihnen Abendbrot essen.«

Er lachelte und sagte: »Tut mir leid, ich habe eine Verabredung und bin schon zu spat dran.«

»Dann gehen Sie nur«, sagte sie. »Ich werde mich schon zurechtfinden.«

Er schob die Noten in die Tasche zuruck. »Wie Sie meinen, Schatzchen«, sagte er. »Au Voir.« Er drehte sich um und ging wieder zu der Taxe zuruck. Noelle sah ihm nach und fragte sich, was mit ihr nicht stimmte. Sie wusste, sie hatte sich dumm benommen, aber sie wusste auch, dass sie nicht anders hatte handeln konnen. Vom ersten Augenblick hatte sie etwas nie zuvor Empfundenes gefuhlt, eine so starke Welle der Erregung, dass sie sie beinahe hatte beruhren konnen. Sie kannte nicht einmal seinen Namen und wurde ihn wahrscheinlich nie mehr wieder sehen. Noelle warf einen verstohlenen Blick zum Hotel hinuber und sah den Detektiv entschlossen auf sich zukommen. Es war ihre eigene Schuld. Diesmal wurde sie sich nicht herausreden konnen. Sie spurte eine Hand auf ihrer Schulter, und als sie sich umdrehte, um zu sehen, wer es war, hakte der Fremde sie unter und zog sie zum Taxi hin, offnete schnell die Tur und stieg neben ihr ein. Er nannte dem Fahrer eine Adresse. Der am Rinnstein stehende Detektiv starrte dem davonfahrenden Taxi nach.

»Was ist mit Ihrer Verabredung?« fragte Noelle.

»Es ist eine Party«, sagte er schulterzuckend. »Einer mehr oder weniger spielt keine Rolle. Ich hei?e Larry Douglas. Wie hei?en Sie?«

»Noelle Page.«

»Wo kommen Sie her, Noelle?«

Sie blickte ihn an, sah ihm in die leuchtend-dunklen Augen und antwortete: »Antibes. Ich bin die Tochter eines Prinzen.«

Er lachte, entblo?te seine ebenma?igen Zahne.

»Das ist aber nett, Prinzessin«, sagte er.

»Sind Sie Englander?«

»Amerikaner.«

Sie musterte seine Uniform. »Amerika ist nicht im Krieg.«

»Ich bin in der britischen RAF«, erklarte er. »Sie hat soeben eine Kampfgruppe amerikanischer Flieger aufgestellt. Sie nennt sich Adler-Staffel.«

»Aber warum kampfen Sie fur England?«

»Weil England fur uns kampft«, sagte er. »Wir wissen es blo? noch nicht.«

Noelle schuttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Hitler ist ein Boche-Clown.«

»Vielleicht. Aber ein Clown, der wei?, was die Deutschen wollen: die Welt beherrschen.«

Noelle horte fasziniert zu, als Larry uber Hitlers Strategie sprach, den plotzlichen Austritt aus dem Volkerbund, den gemeinsamen Verteidigungspakt mit Japan und Italien. Sie war nicht fasziniert von dem, was er sagte, sondern von seinem Gesicht, dessen Anblick sie genoss, wahrend er sprach. Seine dunklen Augen blitzten

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