franzosischen Juden, die mit dem fast ubermutigen Einschlagen von ein paar Schaufenstern begonnen hatten, waren von der tuchtigen Gestapo zu einem System von Plunderungen, Rassentrennung und Ausrottung ausgebaut worden.
Am 29. Mai war eine neue Verordnung erlassen worden: »... ein sechszackiger Stern von den Ausma?en einer Handflache, mit einem schwarzen Rand versehen. Er muss aus gelbem Tuch sein und in schwarzen Buchstaben die Aufschrift JUDE haben. Er ist vom Alter von sechs Jahren an sichtbar auf der linken Brustseite zu tragen und muss fest am Kleidungsstuck angebracht sein.«
Nicht alle Franzosen waren gewillt, den deutschen Stiefel auf sich herumtrampeln zu lassen. Der Maquis, die franzosische Widerstandsbewegung, kampfte mit Klugheit und Harte, und wenn man ihre Mitglieder gefangen nahm, wurden sie auf erfinderische Weise zu Tode gebracht.
Eine junge Grafin, deren Familie ein schloss au?erhalb von Chartres besa?, wurde gezwungen, sechs Monate lang die Offiziere des deutschen Ortskommandos in den Raumen ihres Erdgeschosses unterzubringen, wahrend sie gleichzeitig funf von der Gestapo gesuchte Mitglieder des Marquis in den oberen Stockwerken des Schlosses versteckt hielt.
Die zwei Gruppen trafen einander nie, aber nach drei Monaten waren die Haare der Grafin vollig wei? geworden.
Die Deutschen lebten, wie es sich fur Eroberer ziemt, aber dem Durchschnittsfranzosen mangelte es an allem, au?er an Kalte und Elend. Das Gas zum Kochen war rationiert, und es gab nichts zum Heizen. Die Pariser uberlebten die Winter, indem sie tonnenweise Sagemehl kauften, das sie in der einen Halfte ihrer Wohnungen aufspeicherten, wahrend sie die andere Halfte mittels besonderer Sagemehlofen warm hielten.
Alles war Ersatz, von den Zigaretten und dem Kaffee bis zum Leder. Die Franzosen machten Witze daruber, dass es vollkommen egal sei, was man esse; alles schmecke gleich. Die franzosischen Frauen – traditionsgema? die elegantesten der Welt – trugen schabige Lammfellmantel statt Wolle und Holzschuhe mit Keilabsatzen, so dass es sich wie das Klappern von Pferdehufen anhorte, wenn sie durch die Stra?en von Paris gingen.
Sogar Taufen waren davon betroffen, denn es gab keine kandierten Mandeln, die traditionelle Su?igkeit bei der Taufzeremonie, und Su?warengeschafte forderten in ihren Schaufenstern die Kunden auf, sich in die Vormerkliste fur Mandeln einzutragen. Es gab ein paar Renault-Taxis auf der Stra?e, aber die gebrauchlichste Art von Beforderung war das zweisitzige Tandem-Fahrrad.
Das Theater, wie immer in Zeiten anhaltender Krisen, bluhte. Die Leute fanden in den Kinos und auf den Buhnen eine Moglichkeit, der niederdruckenden Realitat ihres Alltagslebens zu entfliehen. Uber Nacht war Noelle Page zum Star geworden. Eifersuchtige Kollegen im Theater sagten, dies sei einzig und allein der Macht und der Begabung Armand Gautiers zuzuschreiben, und wenn es auch stimmte, dass Gautier ihre Karriere gefordert hatte, ist es doch im Theatermilieu eine anerkannte Tatsache, dass niemand einen Star machen kann au?er dem Publikum, diesem gesichtslosen, launischen, anbetenden, wankelmutigen Richter uber das Schicksal eines
Schauspielers. Das Publikum vergotterte Noelle.
Was Armand Gautier betraf, so bereute er aufs bitterste, zu Noelles Karriere beigetragen zu haben. Sie brauchte ihn jetzt nicht mehr; nur eine Laune band sie an ihn, und er lebte in dauernder Furcht vor dem Tag, an dem sie ihn verlassen wurde. Gautier hatte den gro?ten Teil seines Lebens im Theater verbracht, aber er war nie jemandem wie Noelle begegnet. Sie war aufnahmefahig wie ein Schwamm, lernte alles, was er sie zu lehren hatte, und verlangte immer noch mehr. Es war phantastisch gewesen, die Metamorphose zu beobachten, die in ihr vorging, wenn sie vom anfanglichen unsicheren Abtasten einer Rolle zu deren selbstsicherer Beherrschung fortschritt. Gautier hatte von Anfang an gewusst, dass aus Noelle ein Star wurde – dessen war er immer vollig sicher gewesen -, aber als er sie besser kennen lernte, fand er mit Erstaunen, dass es nicht ihr Ziel war, ein Star zu sein. In Wahrheit war Noelle nicht einmal an der Schauspielerei interessiert.
Zuerst konnte Gautier das einfach nicht glauben. Star – das war die oberste Stufe der Leiter, das sine qua non. Aber fur Noelle war das Schauspielern einfach ein Sprungbrett, und Gautier hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt fur ihr wahres Ziel. Sie war ein Geheimnis, ein Ratsel, und je tiefer Gautier sondierte, desto mysterioser wurde alles, wie die chinesischen Schachteln, die beim Offnen stets weitere Schachteln in ihrem Inneren enthullen. Gautier hielt sich etwas auf seine Menschenkenntnis zugute, speziell auf seine Frauenkenntnis, und die Tatsache, dass er absolut nichts von der Frau wusste, mit der er lebte, machte ihn verruckt. Er bat Noelle, ihn zu heiraten, und sie sagte: »Ja, Armand«, und er wusste genau, dass damit nichts gesagt war, dass es fur sie nicht mehr bedeutete als ihre Verlobung mit Philippe Sorel oder Gott wei? wie viel anderen Mannern in ihrer Vergangenheit. Er begriff, dass die Heirat niemals stattfinden wurde. Sobald es Noelle passte, wurde sie weiterziehen.
Gautier war sicher, dass jeder Mann, der sie kennen lernte, sie dazu bringen wollte, mit ihm zu schlafen. Er wusste auch von seinen neidischen Freunden, dass es keinem von ihnen gelungen war.
»Du glucklicher Hurensohn«, hatte einer seiner Freunde gesagt. »Du musst ja ein richtiger Bulle sein. Ich bot ihr eine Jacht, ein eigenes schloss und einen Stab von Dienstboten in Cap d'Antibes an, und sie lachte mich nur aus.«
Ein anderer Freund, ein Bankier, sagte zu ihm: »Endlich habe ich etwas gefunden, was man nicht fur Geld kaufen kann.«
»Noelle?«
Der Bankier nickte. »Erraten. Ich bat sie, ihren Preis zu nennen. Sie war nicht interessiert. Was fesselt sie an dich, mein Freund?«
Armand Gautier hatte es auch gerne gewusst.
Gautier erinnerte sich an das erste Stuck, das er fur sie gefunden hatte. Schon nach der Lekture von einem Dutzend Seiten wusste er, dass es genau das war, was er gesucht hatte. Es war ein Drama uber eine Frau, deren Mann im Krieg war. Eines Tages erscheint ein Soldat in ihrem Heim und erzahlt ihr, er sei ein Kamerad ihres Mannes, mit dem er an der russischen Front gekampft hatte. Im weiteren Verlauf des Stuckes verliebt sich die Frau in den Soldaten, nicht ahnend, dass er ein psychopathischer Morder ist und sie in Lebensgefahr schwebt. Es war eine gro?artige Rolle, und Gautier willigte sofort ein, die Regie zu ubernehmen, unter der Bedingung, dass Noelle Page die Hauptrolle spiele. Den Geldgebern widerstrebte es, einer Unbekannten eine solche Rolle anzuvertrauen, sie erklarten sich aber trotzdem bereit, sie vorsprechen zu lassen. Gautier eilte nach Hause, um Noelle die Nachricht zu uberbringen. Sie war zu ihm gekommen, weil sie ein Star werden wollte, und jetzt wurde er ihren Wunsch erfullen. Er sagte sich, das wurde sie enger verbinden und sie dazu bringen, ihn wirklich zu lieben. Sie wurden heiraten, und sie gehorte ihm dann fur immer.
Aber als Gautier ihr die Neuigkeit uberbrachte, blickte sie nur auf und sagte: »Das ist wunderbar, Armand, ich danke dir.« In demselben Tonfall, in dem sie ihm gedankt hatte, wenn er ihr die genaue Zeit gesagt oder Feuer fur ihre Zigarette gegeben hatte.
Gautier beobachtete sie lange und erkannte, dass Noelle auf eine seltsame Weise krank war; irgendein Gefuhl war in ihr erstorben oder war niemals vorhanden gewesen, niemand wurde sie je besitzen. Er wusste es, und trotzdem konnte er nicht wirklich daran glauben, denn was er sah, war ein schones, zartliches Geschopf, das bereitwillig allen seinen Launen nachgab und nichts dafur forderte. Und weil Gautier sie liebte, schob er seine Zweifel beiseite, und sie begannen mit der Arbeit an dem Stuck.
Noelle war phantastisch beim Vorsprechen und bekam ohne weiteres die Rolle, wie Gautier schon vorher gewusst hatte. Als das Stuck zwei Monate spater in Paris Premiere hatte, wurde Noelle uber Nacht zum beliebtesten Star Frankreichs. Die Kritiker hatten sich vorgenommen, das Stuck und Noelle zu verrei?en, weil sie wussten, dass Gautier seiner Geliebten, einer unerfahrenen Schauspielerin, die Hauptrolle zugeschoben hatte, und das war fur sie eine uberaus verlockende Gelegenheit, die sie sich nicht entgehen lassen wollten. Aber Noelle hatte sie vollig in Bann geschlagen. Sie suchten nach neuen Superlativen, um ihre Darstellung und ihre Schonheit zu beschreiben. Das Stuck war ein Kassenschlager.
Jeden Abend nach der Vorstellung war Noelles Garderobe voller Besucher. Sie empfing alle: Schuhverkaufer, Soldaten, Millionare, Ladenmadchen und behandelte jedermann mit der gleichen geduldigen Hoflichkeit. Gautier war immer von neuem erstaunt. Sie benimmt sich fast wie eine Prinzessin, die ihre Untertanen empfangt, dachte er.
Innerhalb eines Jahres erhielt Noelle drei Briefe aus Marseille. Sie zerriss sie ungeoffnet, und schlie?lich kamen keine mehr.
Im Fruhling spielte Noelle die Hauptrolle in einem Film unter der Regie von Armand Gautier, und als der Film herauskam, verbreitete sich ihr Ruhm noch mehr. Gautier wunderte sich uber Noelles Geduld bei Interviews