und wandte sich dann uberrascht Noelle zu. »Merkwurdig, dass Sie mich danach fragen. Ich dachte, er sei ein Freund von Ihnen. Das ist General Scheider. Er gehort dem Generalstab an.« Noelle entsann sich der Rosen und der Karte. »Warum hatten Sie geglaubt, er sei ein Freund von mir?« fragte sie.
Der Mann schien verlegen. »Ich nahm naturlich an ... ich meine, jedes Stuck und jeder Film, der in Frankreich produziert wird, muss von den Deutschen zugelassen werden. Als der Zensor die Produktion Ihres letzten Films verhindern wollte, griff der General personlich ein und gab seine Genehmigung.«
In diesem Moment brachte Armand Gautier jemanden an, den er Noelle vorstellen wollte, und das Gesprach nahm eine andere Wendung.
Noelle beachtete General Scheider nicht mehr.
Als sie am nachsten Abend in ihre Garderobe trat, fand sie eine einzige Rose in einer kleinen Vase mit einem Kartchen vor, auf dem stand: »Vielleicht sollten wir bescheidener anfangen. Kann ich Sie sehen? Hans Scheider.«
Noelle zerriss das Kartchen und warf die Blume in den Papierkorb.
Nach diesem Abend bemerkte Noelle, dass General Scheider auf fast jeder Gesellschaft war, die sie und Armand besuchten. Er blieb stets im Hintergrund und beobachtete sie. Das war offensichtlich kein Zufall mehr. Noelle begriff, dass er keine Muhe scheute, ihr uberall nachzuspuren und sich Einladungen fur alle Gesellschaften zu verschaffen, zu denen sie auch gehen wurde.
Sie fragte sich, warum er so an ihr interessiert war, aber es war eine mu?ige Uberlegung, und es beruhrte sie eigentlich nicht. Hin und wieder machte sich Noelle einen Spa? daraus, eine Einladung anzunehmen und nicht zu erscheinen, und wenn sie dann am nachsten Tag die Gastgeberin fragte, ob General Scheider da gewesen sei, lautete die Antwort stets: »Ja.«
Trotz der schnellen und todlichen Strafe, die die Nazis gegen jeden verhangten, der sich ihnen widersetzte, bluhte die
Sabotage in Paris weiter. Neben dem Marquis gab es kleine Gruppen freiheitsliebender Franzosen, die ihr Leben riskierten, um den Feind mit allen ihnen zur Verfugung stehenden Waffen zu bekampfen. Sie ermordeten deutsche Soldaten, wo immer sie sie uberrumpeln konnten, lie?en Versorgungslastwagen in die Luft fliegen und legten Minen unter Brucken und Zuge. Ihre Tatigkeit wurde in der zensierten Tagespresse als infam angeprangert, aber fur die Patrioten waren diese infamen Taten heldenhaft. Immer wieder tauchte der Name eines Mannes in den Zeitungen auf – er trug den Spitznamen Le Cafard, die Schabe, denn er schien uberall sein Wesen zu treiben, und es gelang der Gestapo nie, seiner habhaft zu werden. Manche glaubten, er sei ein in Paris lebender Englander; eine andere Theorie besagte, dass er ein Agent von General de Gaulle, dem Fuhrer der Freien Franzosischen Truppen, sei; und manche behaupteten sogar, er sei ein ubergelaufener Deutscher. Wer immer er auch war, Zeichnungen von Schaben begannen in ganz Paris aufzutauchen, an Gebauden, auf dem Trottoir und sogar im deutschen Hauptquartier. Die Gestapo konzentrierte alle ihre Bemuhungen darauf, ihn zu fangen. Eines war gewiss: Le Cafard war uber Nacht zum Volkshelden geworden.
An einem regnerischen Nachmittag im Dezember besuchte Noelle die Eroffnung der Ausstellung eines jungen Kunstlers, den sie und Armand kannten. Die Ausstellung fand in einer Galerie im Faubourg St. Honore statt. Der Raum war uberfullt. Viele Beruhmtheiten waren anwesend, und die Fotografen waren uberall. Noelle wanderte von einem Bild zum andern und fuhlte plotzlich, wie jemand sie am Arm beruhrte. Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht von Madame Rose. Noelle erkannte sie nicht sofort. Das vertraute hassliche Gesicht war das gleiche, und doch schien es um zwanzig Jahre gealtert, als ob sie mit der Zeit durch irgendeine Alchimie in ihre eigene Mutter verwandelt worden ware. Sie war in ein gro?es schwarzes Cape gehullt, und Noelles Unterbewusstsein
sagte ihr, dass sie nicht den vorgeschriebenen gelben Judenstern trug.
Noelle wollte etwas sagen, wurde jedoch von der altlichen Frau unterbrochen, die ihren Arm druckte.
»Konnten wir uns treffen?« fragte sie mit kaum vernehmlicher Stimme. »Les Deux Magots.«
Bevor Noelle antworten konnte, verschwand Madame Rose in der Menge, und Noelle fand sich von Fotografen umgeben. Wahrend sie fur sie posierte und ihr ubliches Lacheln aufsetzte, dachte sie an Madame Rose und ihren Neffen, Israel Katz. Beide hatten ihr in Zeiten der Not geholfen. Israel hatte ihr zweimal das Leben gerettet. Noelle fragte sich, was Madame Rose wollte. Wahrscheinlich Geld.
Zwanzig Minuten spater schlich sich Noelle davon und nahm ein Taxi zur Place St. Germain des Pres. Es hatte mit gelegentlichen Unterbrechungen den ganzen Tag geregnet, und jetzt hatte sich der Regen in einen kalten Graupelschauer verwandelt. Als ihr Taxi bei den Deux Magots vorfuhr und Noelle in die bei?ende Kalte hinausstieg, tauchte plotzlich aus dem Nichts ein Mann in einem Regenmantel und einem breitkrempigen Hut neben ihr auf. Noelle brauchte einen Augenblick, um ihn zu erkennen. Wie seine Tante sah auch er alter aus, aber die Verwandlung bestand nicht nur darin. Er strahlte eine Personlichkeit, eine Starke aus, die er vorher nicht gehabt hatte. Israel Katz war dunner als das letzte Mal, da sie ihn gesehen hatte, und seine Augen lagen in tiefen Hohlen, als ob er tagelang nicht geschlafen hatte. Noelle bemerkte, dass er nicht den gelben sechszackigen Judenstern trug.
»Gehen wir hinein«, sagte Israel Katz.
Er nahm Noelles Arm. Im Cafe war ein halbes Dutzend Gaste, alles Franzosen. Israel fuhrte Noelle an einen Tisch in einer hinteren Ecke.
»Wollen Sie etwas trinken?« fragte er.
»Nein, danke.«
Er nahm seinen durchnassten Hut ab, und Noelle betrachtete prufend sein Gesicht. Sie wusste sofort, dass er sie nicht herbestellt hatte, um Geld von ihr zu erbitten. Er beobachtete sie.
»Sie sind immer noch schon, Noelle«, sagte er ruhig. »Ich habe alle Ihre Filme und Stucke gesehen. Sie sind eine gro?e Schauspielerin.«
»Warum sind Sie niemals zu mir hinter die Buhne gekommen?« Israel zogerte und lachelte gezwungen. »Ich wollte Ihnen keine Ungelegenheiten bereiten.«
Noelle starrte ihn einen Augenblick an, bevor sie begriff, was er meinte. Fur sie war »Jude« nur ein Wort, das ab und zu in den Zeitungen auftauchte, und es bedeutete nichts in ihrem Leben, aber was musste es hei?en, mit diesem Wort zu leben, Jude in einem Land zu sein, das darauf aus war, einen vom Erdboden zu tilgen, einen auszurotten, besonders, wenn es das eigene Vaterland war.
»Ich suche mir meine Freunde aus«, erwiderte Noelle. »Niemand befiehlt mir, mit wem ich zu verkehren habe.«
Israel lachelte gezwungen. »Verschwenden Sie Ihren Mut nicht«, riet er. »Gebrauchen Sie ihn, wo er von Nutzen sein kann.«
»Erzahlen Sie mir von sich«, sagte sie.
Er zuckte die Schultern. »Ich fuhre kein sehr glanzvolles Leben. Ich wurde Chirurg, studierte bei Dr. Angibouste. Haben Sie mal von ihm gehort?«
»Nein.«
»Er ist ein gro?er Herzchirurg. Er protegierte mich. Dann haben mir die Nazis die arztliche Lizenz entzogen.« Er hielt seine schon geformten Hande hoch und betrachtete sie, als ob sie jemand anderem gehorten. »So wurde ich Zimmermann.«
Sie sah ihn lange an. »Ist das alles?« fragte sie.
Israel musterte sie erstaunt. »Naturlich«, sagte er. »Warum?«
Noelle schob einen Hintergedanken beiseite.
»Nichts. Warum wollten Sie mich sehen?«
Er beugte sich naher zu ihr und senkte seine Stimme. »Sie mussen mir einen Gefallen tun. Ein Freund«
In diesem Augenblick offnete sich die Tur, und vier deutsche Soldaten in feldgrauen Uniformen, angefuhrt von einem Unteroffizier, marschierten ins Cafe. Der Unteroffizier rief mit lauter Stimme: »Achtung! Ausweiskontrolle!«
Israel Katz erstarrte, und sein Gesicht schien sich in eine Maske zu verwandeln. Noelle sah, wie seine rechte Hand in die Manteltasche glitt. Seine Augen schweiften zu dem engen Korridor, der zum hinteren Ausgang fuhrte, aber einer der Soldaten ging bereits darauf zu und versperrte ihn. Israel sagte mit leiser, eindringlicher Stimme: »Lassen Sie mich allein. Gehen Sie durch die Vordertur hinaus. Jetzt gleich.«
»Warum?« fragte Noelle.