Noelle ging im Zimmer umher und stellte die Mobel wieder an ihren Platz, wobei sie scharf nachdachte. Gautier fasste sie an den Schultern. »Ich mochte wissen, was vorgeht.«
Sie holte tief Atem. »Gut.«
Sie erzahlte ihm von ihrem Treffen mit Israel Katz, verschwieg aber dabei seinen Namen und die darauf folgende Unterhaltung mit Oberst Muller. »Ich wei? nicht, ob mein Freund Le Cafard ist, aber es ist moglich.«
Gautier sank wie betaubt in einen Stuhl. »Mein Gott!« rief er aus. »Es ist mir egal, wer er ist. Aber ich will nicht, dass du kunftig irgend etwas mit ihm zu tun hast. Diese Angelegenheit konnte uns beide vernichten. Ich hasse die Deutschen genauso wie du ...«
Er hielt inne, da er nicht sicher war, ob Noelle die Deutschen uberhaupt hasste. Dann begann er von neuem: »Cherie, solange die Deutschen hier die Herren sind, mussen wir uns nach ihnen richten. Niemand von uns kann es sich leisten, die Gestapo herauszufordern. Dieser Jude – wie, sagtest du, war sein Name?«
»Ich habe ihn nicht genannt.«
Er blickte sie einen Augenblick an. »War er dein Liebhaber?«
»Nein, Armand.«
»Bedeutet er dir etwas?«
»Nein.«
»Dann ist es gut.« Gautier klang erleichtert. »Ich glaube nicht, dass wir irgend etwas zu befurchten haben. Sie konnen dir nichts vorwerfen, wenn du nur eine zufallige Begegnung mit ihm gehabt hast. Wenn du ihn nie wieder siehst, werden sie die ganze Geschichte vergessen.«
»Naturlich werden sie sie vergessen«, sagte Noelle.
Am nachsten Abend, als Noelle sich zum Theater begab, folgten ihr zwei Gestapomanner.
Von diesem Tag an folgte man Noelle uberallhin. Zuerst verspurte sie nur ein leises Unbehagen, ein vages Gefuhl, dass jemand die Augen auf sie gerichtet hielt. Noelle drehte sich daraufhin meistens um und erblickte in der Menge einen germanisch aussehenden jungen Mann in Zivil, der sie nicht zu beachten schien. Spater im Verlauf des Tages kehrte dieses Unbehagen wieder, und diesmal war es ein anderer Germane. Es war nie der gleiche und obwohl sie in Zivil waren, trugen sie doch eine Uniform, die nur die Thre sein konnte: eine Haltung, gemischt aus Verachtung, Arroganz und Grausamkeit, deren Ausstrahlung unverkennbar war. Noelle erzahlte Gautier nichts davon, denn sie hielt es fur unnotig, ihn noch mehr in Unruhe zu versetzen. Der Zwischenfall mit der Gestapo in ihrer Wohnung hatte ihn sehr aus der Fassung gebracht. Er sprach die ganze Zeit davon, was die Deutschen seiner und Noelles Karriere antun konnten, wenn sie wollten, und Noelle wusste, dass er recht hatte. Man brauchte nur die Tageszeitungen zu lesen, um zu sehen, dass die Nazis ihren Feinden gegenuber erbarmungslos waren. General Scheider hatte mehrmals telefonische Nachricht hinterlassen, aber Noelle hatte sich nicht darum gekummert. Auch wenn sie die Nazis nicht zu Feinden wollte, zu Freunden wollte sie sie auch nicht. Sie beschloss, neutral zu bleiben wie die Schweiz. Die Israels Katz der Welt wurden sich allein helfen mussen. Noelle war ein wenig neugierig, was er von ihr gewollt haben konnte, hatte aber keinerlei Absicht, in die Sache verwickelt zu werden.
Zwei Wochen nach ihrer Begegnung mit Israel Katz erschien auf der Titelseite der Zeitungen gro? die Nachricht, dass die Gestapo eine von Le Cafard geleitete Gruppe von Saboteuren geschnappt hatte. Noelle las alle diese Nachrichten sorgfaltig, aber es wurde nicht erwahnt, ob Le Cafard selbst erwischt worden war. Sie dachte an Israel Katz' Gesichtsausdruck, als die Deutschen auf ihn zutraten, und sie wusste, dass er sich niemals lebend ergeben wurde. Naturlich, sagte sich Noelle, bilde ich mir das alles vielleicht nur ein. Er ist wahrscheinlich ein harmloser Zimmermann, wie er gesagt hat. Aber wenn er harmlos war, warum war dann die Gestapo so hinter ihm her? War er Le Cafard? Und hatten sie ihn erwischt, oder war er entkommen? Noelle trat ans Fenster ihrer Wohnung, das auf die Avenue Martigny hinausging. Zwei Figuren in schwarzen Regenmanteln standen unter einer Stra?enlaterne, warteten. Worauf? Noelle fing an, die gleiche Beunruhigung wie Gautier zu verspuren, aber gleichzeitig wurde sie zornig. Sie entsann sich der Worte des Obersten Muller: Sie haben mich zu furchten. Es war eine Herausforderung. Noelle hatte das Gefuhl, dass sie wieder von Israel Katz horen wurde.
Die Nachricht kam am nachsten Morgen von vollig unerwarteter Seite – von ihrem Concierge. Er war ein kleiner Mann in den Siebzigern, mit wassrigen Augen und einem verhutzelten, ledernen Gesicht; au?erdem fehlten ihm die unteren Zahne, so dass er schwer zu verstehen war. Als Noelle den Liftknopf druckte, wartete er im Fahrstuhl auf sie. Sie fuhren zusammen abwarts, und als sie sich dem Erdgescho? naherten, murmelte er: »Die Geburtstagstorte, die Sie beim Backer in der Rue de Passy bestellt haben, ist fertig.«
Noelle starrte ihn einen Moment lang an, unsicher, ob sie richtig verstanden hatte, und sagte dann: »Ich habe keine Torte bestellt.«
»Rue de Passy«, wiederholte er hartnackig.
Und plotzlich begriff Noelle. Selbst dann hatte sie nichts weiter unternommen, wenn ihr Blick nicht auf die beiden Gestapo-Agenten gefallen ware, die auf der Stra?e auf sie warteten. Wie ein Verbrecher wurde man verfolgt! Die beiden Manner unterhielten sich miteinander. Sie hatten sie noch nicht bemerkt. Wutend wandte sich Noelle an den Concierge: »Wo ist der Lieferanteneingang?«
»Kommen Sie mit, Mademoiselle.«
Noelle folgte ihm durch einen ruckwartigen Korridor, eine Treppe hinunter zum Souterrain und dann auf eine Gasse hinaus. Drei Minuten spater sa? sie in einem Taxi, auf dem Weg zu ihrer Verabredung mit Israel Katz.
Die Backerei war ein ganz gewohnliches Geschaft in einer verwahrlosten Kleinburgergegend. Die Aufschrift auf dem Fenster lautete BOULANGERIE, und die Buchstaben waren abgeblattert und zerbrochen. Noelle offnete die Tur und ging hinein. Sie wurde von einer kleinen dicklichen Frau in einer makellos wei?en Schurze begru?t.
»Ja, Mademoiselle?«
Noelle zogerte. Sie konnte immer noch weglaufen, sich einfach umdrehen und nicht in etwas Gefahrliches verwickelt werden, das sie nichts anging.
Die Frau wartete.
»Sie – Sie haben eine Geburtstagstorte fur mich«, sagte Noelle und kam sich bei diesem Spiel albern vor, als ob die kindischen Tricks, die man anzuwenden gezwungen war, nicht dem Ernst der Lage entsprachen.
Die Frau nickte. »Sie ist fertig, Mademoiselle Page.« Sie hangte ein GESCHLOSSEN-Schild an die Tur, schloss sie ab und sagte: »Hier entlang.«
Er lag auf einer Pritsche in einem kleinen Hinterraum der
Backerei, sein Gesicht war maskenhaft starr vor Schmerz, und er war in Schwei? gebadet. Das um ihn gewundene Leinentuch war blutgetrankt, und um sein linkes Knie war eine gro?e Aderpresse geschnallt.
»Israel.«
Er drehte sein Gesicht zur Tur, das Leinentuch fiel herunter und gab plotzlich einen blutigen Brei von zerschmetterten Knochen und Fleisch frei, wo sein Knie gewesen war.
»Was ist passiert?« fragte Noelle.
Er versuchte zu lacheln, aber es gelang ihm nicht ganz. Seine Stimme klang vor Schmerz heiser und gezwungen. »Sie sind auf >die Schabe< getreten, aber so leicht bringt man uns nicht um.«
Sie hatte sich also nicht getauscht. »Ich habe davon gelesen«, sagte Noelle. »Werden Sie wieder in Ordnung kommen?«
Israel holte tief Atem, was fur ihn uberaus schmerzlich war, und nickte. Muhsam keuchend sagte er:
»Die Gestapo stellt auf der Suche nach mir ganz Paris auf den Kopf. Meine einzige Chance ist, irgendwie aus der Stadt herauszukommen ... Wenn ich Le Havre erreichen konnte, dort habe ich Freunde, die helfen wurden, mich auf einem Schiff au?er Landes zu bringen.«
»Haben Sie keinen Freund, der Sie aus Paris hinausschmuggeln kann?« fragte Noelle. »Sie konnten sich hinten in einem Lastwagen verstecken.«
Israel schuttelte schwach den Kopf. »Stra?ensperren. Keine Maus kommt aus Paris heraus.«
Nicht einmal eine »Schabe«, dachte Noelle. »Konnen Sie denn mit diesem Bein reisen?« fragte sie, um Zeit zu gewinnen und zu einem Entschluss zu kommen.
Seine Lippen verzogen sich zu einer Art Lacheln.
»Ich werde nicht mit diesem Bein reisen«, sagte Israel.
Noelle blickte ihn verstandnislos an; in diesem Augenblick ging die Tur auf, und ein gro?er breitschultriger, bartiger Mann
kam herein. Er trug eine Axt in der Hand. Er ging auf das Bett zu, schlug das Leintuch zuruck, und Noelle