Die Deutschen pruften die Ausweise einiger Gaste an einem Tisch in der Nahe des Eingangs.
»Keine Fragen«, befahl er. »Gehen Sie.«
Noelle zogerte einen Augenblick, erhob sich dann und ging auf die Tur zu. Die Soldaten wechselten bereits zum nachsten Tisch uber. Israel hatte seinen Stuhl zuruckgeschoben, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Dadurch lenkte er die Aufmerksamkeit von zwei Soldaten auf sich. Sie gingen auf ihn zu.
»Ausweis!«
Irgendwie wusste Noelle, dass es Israel war, den die Soldaten suchten, und dass er versuchen wurde zu fluchten und sie ihn dabei toten wurden. Er hatte keine Chance.
Sie drehte sich um und rief ihm laut zu: »Francois! Wir werden zu spat ins Theater kommen. Zahle und lass uns gehen.«
Die Soldaten blickten sie erstaunt an. Noelle wandte sich zum Tisch.
Unteroffizier Schultz ging ihr entgegen. Er war ein blonder,
pausbackiger Junge, Anfang Zwanzig. »Sind Sie in Begleitung dieses Mannes, Fraulein?« fragte er.
»Naturlich. Haben Sie nichts Besseres zu tun, als ehrliche franzosische Burger zu belastigen?« fragte Noelle erbost.
»Mein liebes Fraulein, es tut mir leid, aber ...«
»Ich bin nicht Ihr liebes Fraulein!« erwiderte Noelle scharf. »Ich bin Noelle Page, Schauspielerin im Varietetheater, und dieser Herr ist mein Partner. Heute Abend werde ich mit meinem Freund, General Scheider, soupieren und ihm von Ihrem Benehmen heute Nachmittag berichten; er wird emport sein.«
Noelle sah einen Blick des Erkennens in den Augen des Unteroffiziers auftauchen, aber ob ihm ihr Name oder der des Generals Scheider bekannt war, das wusste sie nicht.
»Es – es tut mir leid, Fraulein«, stammelte er. »Naturlich kenne ich Sie.« Er wandte sich Israel Katz zu, der schweigend, die Hande in den Manteltaschen, dasa?. »Diesen Herrn aber kenne ich nicht.«
»Sie wurden ihn kennen, wenn ihr Barbaren je ins Theater gingt«, sagte Noelle mit schneidender Verachtung. »Sind wir verhaftet, oder konnen wir gehen?«
Der junge Unteroffizier spurte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Er hatte eine sofortige Entscheidung zu treffen. »Selbstverstandlich sind das Fraulein und ihr Freund nicht verhaftet«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihnen Ungelegenheiten bereitet habe.«
Israel Katz blickte zu dem Soldaten auf und sagte kuhl: »Es regnet, Herr Unteroffizier. Konnte einer Ihrer Leute uns ein Taxi besorgen?«
»Naturlich. Sofort.«
Israel stieg mit Noelle in das Taxi, und der deutsche Unteroffizier stand im Regen und sah zu, wie sie abfuhren. Als das Taxi drei Hauserblocks weiter vor einer Verkehrsampel hielt, offnete Israel die Tur, druckte kurz Noelles Hand und ver-
schwand wortlos in der Nacht.
Am selben Abend um sieben Uhr, als Noelle in ihre Garderobe trat, warteten zwei Manner auf sie. Einer von ihnen war der junge deutsche Unteroffizier vom Nachmittag aus dem Cafe. Der andere war in Zivil. Er war ein Albino, vollkommen ohne Haare, mit rosa Augen, und erinnerte Noelle irgendwie an einen Fotus. Er war in den Drei?igern und hatte ein Mondgesicht. Seine Stimme war hoch und auf fast lacherliche Weise einer Frauenstimme ahnlich, aber es war etwas Undefinierbares, fast Todbringendes an ihm, das einen erstarren lie?. »Mademoiselle Noelle Page?«
»Ja.«
»Ich bin Oberst Kurt Muller von der Gestapo. Ich glaube, Sie kennen Unteroffizier Schultz bereits.«
Noelle wandte sich gleichgultig dem Unteroffizier zu. »Nein, ich glaube nicht.«
»Im Kaffeehaus, heute Nachmittag«, sagte der Unteroffizier hilfreich.
Noelle wandte sich wieder Muller zu. »Ich lerne so viele Leute kennen.«
Der Oberst nickte. »Es muss schwierig sein, sich an alle zu erinnern, wenn man so viele Freunde hat wie Sie, Mademoisel-le.« Sie nickte. »Allerdings.«
»Nehmen wir zum Beispiel den Freund, mit dem Sie heute Nachmittag zusammen waren.« Er machte eine Pause und beobachtete Noelles Augen. »Sie erzahlten Unteroffizier Schultz, dass er in dem Stuck als Ihr Partner auftrete?«
Noelle blickte den Gestapomann erstaunt an. »Der Unteroffizier muss mich falsch verstanden haben.«
»Nein, Fraulein«, erwiderte der Unteroffizier unwillig. »Sie sagten ...«
Der Oberst wandte sich zu ihm um, warf ihm einen eiskalten Blick zu, und der Mund des Unteroffiziers schnappte mitten im Satz zu.
»Vielleicht«, sagte Kurt Muller liebenswurdig. »So etwas kann sehr leicht vorkommen, wenn man versucht, sich in einer fremden Sprache zu verstandigen.«
»Das stimmt«, erwiderte Noelle prompt.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das Gesicht des Unteroffiziers vor Zorn rot anlief, aber er hielt den Mund.
»Es tut mir leid, Sie einer solchen Kleinigkeit wegen belastigt zu haben«, sagte Kurt Muller.
Noelle spurte, wie ihre Schultern herunter sanken, und plotzlich wurde ihr bewusst, in welcher Spannung sie sich befunden hatte.
»Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Vielleicht kann ich Ihnen Karten fur das Stuck verschaffen.«
»Ich habe es schon gesehen«, sagte der Gestapomann, »und Unteroffizier Schultz hat sich eine Karte gekauft. Aber ich danke Ihnen.«
Er ging auf die Tur zu und blieb dann stehen. »Nachdem Sie Unteroffizier Schultz einen Barbaren nannten, beschloss er, fur heute Abend eine Karte zu kaufen, um Ihre Vorstellung zu sehen. Als er die Fotos der Schauspieler im Foyer betrachtete, sah er das Bild Ihres Freundes aus dem Kaffeehaus nicht. Deshalb rief er mich.«
Noelles Herz begann schneller zu schlagen.
»Nur fur unsere Akten, Mademoiselle. Wenn er nicht Ihr Partner war, wer war er wirklich?«
»Ein – ein Freund.«
»Sein Name?« Die hohe Stimme war immer noch sanft, aber es schwang etwas Gefahrliches darin mit.
»Spielt das eine Rolle?« fragte Noelle.
»Auf Ihren Freund passt die Beschreibung eines Verbrechers, den wir suchen. Man hat uns berichtet, er sei heute Nachmittag in der Nahe der Place St. Germain des Pres gesehen worden.«
Noelle stand da und beobachtete ihn, ihr Kopf arbeitete fieberhaft.
»Wie hei?t Ihr Freund?« fragte Oberst Muller hartnackig.
»Ich – ich wei? es nicht.«
»Ah, er war also ein Unbekannter?«
»Ja.«
Er starrte sie an, und seine kalten rosa Augen bohrten sich in die ihren. »Sie sa?en mit ihm zusammen. Sie hielten die Soldaten davon ab, seinen Ausweis einzusehen. Weshalb?«
»Er tat mir leid«, sagte Noelle. »Er kam auf mich zu ...«
»Wo?«
Noelle dachte schnell nach. Moglicherweise hatte sie jemand zusammen das Kaffeehaus betreten sehen. »Vor dem Cafe. Er erzahlte mir, dass die Soldaten hinter ihm her waren, weil er ein paar Lebensmittel fur seine Frau und Kinder gestohlen hatte. Es schien mir ein solch geringfugiges Vergehen, dass ich ...« Sie blickte Muller flehentlich an. »Ich half ihm.«
Muller musterte sie einen Moment und nickte dann bewundernd. »Ich kann verstehen, warum Sie so ein gro?er Star sind.« Das Lacheln erstarb auf seinem Gesicht, und als er wieder sprach, klang seine Stimme noch sanfter. »Gestatten Sie mir, Ihnen einen Rat zu erteilen, Mademoiselle Page. Wir wunschen mit euch Franzosen auf gutem Fu? zu stehen. Wir wollen euch als Freunde und als Verbundete haben. Aber jeder, der unsere Feinde unterstutzt, wird auch unser Feind. Wir werden Ihren Freund fangen, Mademoiselle, und wenn wir ihn haben, werden wir ihn verhoren, und ich garantiere Ihnen, er wird reden.«
»Ich habe nichts zu furchten«, sagte Noelle.
»Sie irren sich.« Seine Stimme war jetzt kaum vernehmbar. »Sie haben mich zu furchten.« Oberst Muller