versuchte, ihre Nerven zu beruhigen. Sie dachte uber Israel Katz nach. Sein Bein war mit einer Axt amputiert worden, und obwohl sie ihn seit jenem Nachmittag in der Backerei nicht mehr gesehen hatte, wusste sie durch den Concierge, dass er am Leben, aber in sehr schwachem Zustand sei. Es wurde immer schwieriger, ihn zu verstecken, und sich selbst uberlassen, war er vollig hilflos. Die Suche nach ihm war noch intensiver geworden. Wenn man ihn aus Paris hinaustransportieren wollte, musste das schnell geschehen. Noelle hatte wirklich nichts getan, wofur die Gestapo sie verhaften konnte – noch nicht. War der Traum eine Vorahnung, eine Warnung, Israel Katz nicht zu helfen? Sie lag im Bett und erinnerte sich, wie er ihr bei ihrer Abtreibung beigestanden hatte. Er hatte ihr geholfen, Larrys Baby umzubringen. Er hatte ihr Geld gegeben und ihr eine Stellung verschafft. Dutzende von Mannern hatten viel wichtigere Dinge fur sie getan als er, und doch fuhlte sie sich ihnen gegenuber nicht verpflichtet. Jeder von ihnen, auch Noelles Vater, hatte etwas von ihr gewollt, und sie hatte fur alles bezahlt, was sie je erhalten hatte. Israel Katz hatte nie etwas von ihr gewollt. Sie musste ihm helfen.

Noelle unterschatzte das Problem nicht. Oberst Muller verdachtigte sie bereits. Sie dachte an ihren Traum und schauderte. Sie musste dafur sorgen, dass Muller niemals einen Beweis gegen sie erbringen konnte. Israel Katz musste aus Paris hinausgeschmuggelt werden, aber wie? Noelle wusste mit Bestimmtheit, dass alle Ausfahrten scharf bewacht waren. Sie wurden die Stra?en und den Fluss uberwachen. Die Nazis mochten cochons sein, aber sie waren tuchtige cochons. Es war ein Risiko, und es konnte ein todliches sein, aber sie war entschlossen, es zu versuchen. Das Problem war, dass sie sich an niemanden um Hilfe wenden konnte. Die Nazis hatten Armand Gautier zu einem Wackelpudding gemacht. Nein, sie musste es allein tun. Sie dachte an Oberst Muller und General Scheider: Wer von den beiden wurde den Sieg davontragen, wenn es je zu einem Zusammensto? zwischen ihnen kame?

Am Abend nach Noelles Traum war sie mit Armand Gautier zu einer Dinnerparty eingeladen. Der Gastgeber war Leslie Rocas, ein reicher Mazen der Kunstwelt. Es war eine bunt gemischte Gesellschaft – Bankiers, Kunstler, fuhrende Politiker und eine Menge schoner Frauen, die Noelles Meinung nach vorwiegend wegen der anwesenden Deutschen eingeladen waren. Gautier hatte Noelles Unruhe bemerkt, aber als er sie fragte, ob etwas nicht stimme, sagte sie, es sei alles in Ordnung.

Funfzehn Minuten bevor das Abendessen serviert wurde, polterte ein verspateter Gast durch die Tur. Als Noelle ihn sah, wusste sie sogleich, dass ihr Problem der Losung nahe war. Sie ging auf die Dame des Hauses zu und sagte: »Meine Liebe, seien Sie ein Engel und setzen Sie mich neben Albert Heller.«

Albert Heller war Frankreichs fuhrender Buhnenautor. Er war ein riesiger watschelnder Bar von einem Mann, um die Sechzig, mit einem wei?en Haarschopf und breiten, abfallenden Schultern. Fur einen Franzosen war er ungewohnlich gro?, aber auf jeden Fall ware er in der Menge aufgefallen, denn er hatte ein bemerkenswert hassliches Gesicht und durchdringende grune Augen, denen nichts entging. Heller besa? eine lebhafte Erfindungsgabe und hatte uber zwanzig Erfolgsstucke und Drehbucher geschrieben. Er hatte Noelle dazu bewegen wollen, die Hauptrolle in einem seiner neuen Stucke zu ubernehmen, und hatte ihr eine Abschrift des Manuskripts gesandt. Als sie jetzt beim Essen neben ihm sa?, sagte Noelle: »Ich habe gerade Ihr neues Stuck zu Ende gelesen, Albert. Ich finde es wunderbar.«

Sein Gesicht strahlte auf. »Werden Sie die Rolle spielen?«

Noelle legte ihre Hand auf die seine. »Wenn ich nur konnte, mein Lieber. Armand hat mich fur ein anderes Stuck verpflichtet.«

Er runzelte die Stirn und seufzte dann resigniert. »Merde! Gut, eines Tages werden wir doch zusammen arbeiten.«

»Das wurde mich sehr freuen«, sagte Noelle. »Ich liebe Ihre Art zu schreiben. Es fasziniert mich, wie die Schriftsteller Handlungen erfinden. Ich wei? nicht, wie Sie das anstellen.«

Er zuckte die Schultern. »Auf dieselbe Weise, wie Sie spielen. Es ist unser Handwerk, mit dem wir unser Brot verdienen.«

»Nein«, erwiderte sie. »Die Fahigkeit, Ihre Phantasie auf diese Weise anzuwenden, erscheint mir wie ein Wunder.« Sie lachte verlegen. »Ich wei? es. Ich habe zu schreiben versucht.«

»Oh?« sagte er hoflich.

»Ja, aber ich bin festgefahren.« Noelle holte tief Atem und blickte dann um sich. Die anderen Gaste waren ganz in ihre Unterhaltung vertieft. Sie neigte sich zu Albert Heller und senkte die Stimme. »Ich habe da eine Situation, in der meine

Heldin versucht, ihren Liebhaber aus Paris hinauszu-schmuggeln. Die Nazis sind hinter ihm her.«

»Ah.« Der schwerfallige Mann sa? da, spielte mit seiner Salatgabel und trommelte mit ihr auf den Teller. Dann sagte er: »Ich hab's. Lassen Sie ihn eine deutsche Uniform anziehen und einfach an ihnen vorbeimarschieren.«

Noelle seufzte und sagte: »Es gibt da eine Komplikation. Er ist verwundet und kann nicht gehen. Er hat ein Bein verloren.«

Das Trommeln horte plotzlich auf. Es kam eine lange Pause, dann sagte Heller: »Ein Boot auf der Seine?«

»Uberwacht.«

»Und wird jedes Transportmittel, das Paris verlasst, durchsucht?«

»Ja.«

»Dann mussen Sie schon die Nazis diese Arbeit fur Sie tun lassen.«

»Wie?«

»Ist Ihre Heldin«, fragte er, ohne Noelle anzublicken, »attraktiv?«

»Ja.«

»Nehmen wir an«, sagte er, »Ihre Heldin steht mit einem deutschen Offizier auf freundschaftlichem Fu?. Jemand von hohem Rang. Ist das moglich?« Noelle wandte sich um und sah ihn an, aber er wich ihrem Blick aus.

»Ja.«

»Gut. Dann soll sie sich mit dem deutschen Offizier verabreden. Sie fahren weg, um ein Wochenende irgendwo au?erhalb von Paris zu verbringen. Freunde konnten es einrichten, dass Ihr Held im Kofferraum des Autos versteckt wird. Der Offizier muss von so hohem Rang sein, dass sein Auto nicht durchsucht wurde.«

»Wenn der Kofferraum abgeschlossen ist«, fragte Noelle, »wird er nicht ersticken?«

Albert Heller trank einen Schluck Wein, still und in Gedanken versunken. Endlich sagte er: »Nicht unbedingt.« Er sprach funf Minuten mit gesenkter Stimme auf Noelle ein, und als er fertig war, sagte er: »Viel Gluck!« Und blickte sie immer noch nicht an.

Fruh am nachsten Morgen rief Noelle General Scheider an. Eine Telefonistin bediente die Zentrale, und ein paar Minuten spater war Noelle mit einem Adjutanten und schlie?lich mit dem Sekretar des Generals verbunden.

»Bitte, wer wunscht General Scheider zu sprechen?«

»Noelle Page«, sagte sie zum dritten Mal.

»Ich bedauere, aber der General ist in einer Besprechung. Er darf nicht gestort werden.«

Sie zogerte. »Kann ich ihn spater noch einmal anrufen?«

»Er wird den ganzen Tag Sitzungen haben. Ich rate Ihnen, dem General einen Brief zu schreiben, in dem Sie ihm Ihre Angelegenheit darlegen.«

Noelle sa? einen Moment da und uberlegte, und ein ironisches Lacheln spielte um ihre Lippen.

»Schon gut«, sagte sie. »Richten Sie ihm nur aus, dass ich angerufen habe.«

Eine Stunde spater klingelte ihr Telefon, es war General Hans Scheider. »Verzeihen Sie«, entschuldigte er sich. »Der Idiot hat mir erst jetzt Ihren Anruf ausgerichtet. Ich hatte Anweisung gegeben, Sie sofort mit mir zu verbinden, aber es kam mir nicht in den Sinn, dass Sie anrufen wurden.«

»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Noelle. »Ich wei? doch, wie beschaftigt Sie sind.«

»Bitte. Was kann ich fur Sie tun?«

Noelle zogerte und wahlte sorgfaltig ihre Worte. »Erinnern Sie sich, was Sie uber uns beide beim Abendessen sagten?«

Es folgte eine kurze Pause, dann: »Ja.«

»Ich habe sehr viel uber Sie nachgedacht, Hans. Ich wurde Sie sehr gerne wieder sehen.«

»Wollen Sie heute mit mir soupieren?« Seine Stimme war plotzlich voll Ungeduld.

»Nicht in Paris«, antwortete Noelle. »Wenn wir zusammen sein wollen, dann lieber au?erhalb von

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