Paris.«

»Wo?« fragte General Scheider.

»Ich denke da an einen ganz besonderen Ort. Kennen Sie Etretat?«

»Nein.«

»Es ist ein wunderhubsches kleines Dorf, ungefahr hundert-funfundachtzig Kilometer von Paris entfernt, in der Nahe von Le Havre. Es gibt einen ruhigen alten Gasthof da.«

»Es klingt wundervoll, Noelle. Es ist nicht leicht fur mich, gerade jetzt die Stadt zu verlassen«, fugte er bedauernd hinzu. »Ich bin mitten in«

»Ich verstehe«, unterbrach ihn Noelle eisig, »vielleicht ein andermal.«

»Warten Sie!« Es folgte eine lange Pause. »Wann konnten Sie sich freimachen?«

»Samstag Abend nach der Vorstellung.«

»Ich werde es arrangieren«, sagte er. »Wir konnen hinfliegen«

»Warum fahren wir nicht mit dem Auto?« fragte Noelle. »Es ist so viel hubsche r.«

»Wie Sie wollen. Ich werde Sie vom Theater abholen.«

Noelle dachte schnell nach. »Ich muss zuerst nach Hause und mich umziehen. Konnten Sie mich in meinem Appartement abholen?«

»Wie Sie wunschen, mein Liebchen. Bis Samstag Abend.«

Funfzehn Minuten spater sprach Noelle mit ihrem Concierge. Er horte ihr zu, schuttelte jedoch heftig protestierend den Kopf.

»Nein, nein, nein! Ich werde es unserem Freund sagen, Mademoiselle, aber er wird es nicht tun. Er musste ein Narr sein! Sie konnten ihn ebenso gut bitten, sich im Gestapohauptquartier um eine Stelle zu bewerben.«

»Es kann nicht misslingen«, versicherte Noelle. »Das beste

Gehirn in Frankreich hat es sich ausgedacht.«

Am gleichen Nachmittag sah sie beim Verlassen ihres Hauses einen Mann, der, an die Wand gelehnt, sich den Anschein gab, als ware er in eine Zeitung vertieft. Als Noelle in die klare Winterluft hinaustrat, richtete sich der Mann auf und folgte ihr in diskretem Abstand. Noelle schlenderte langsam und gemachlich die Stra?e entlang und blieb vor allen Schaufenstern stehen.

Funf Minuten nachdem Noelle das Haus verlassen hatte, kam der Concierge heraus, schaute nach allen Seiten, um sicher zu sein, dass er nicht beobachtet wurde, rief ein Taxi und gab dem Fahrer die Adresse eines Sportgeschafts in Montmartre.

Zwei Stunden spater berichtete der Concierge Noelle: »Er wird Samstag Abend zu Ihnen gebracht.«

Samstag Abend, als Noelle ihre Vorstellung beendet hatte, erwartete sie hinter der Buhne Oberst Muller von der Gestapo. Ein Schauer der Angst lief Noelle uber den Rucken. Der Fluchtplan war bis auf den Bruchteil einer Sekunde ausgetuftelt, und Verzogerungen hatten darin keinen Platz.

»Ich habe Ihre Vorstellung gesehen, Mademoiselle Page«, sagte Oberst Muller. »Sie werden jedes Mal besser.«

Der Klang seiner leisen, hohen Stimme rief Noelle ihren Traum ins Gedachtnis zuruck.

»Ich danke Ihnen, Herr Oberst. Wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich muss mich jetzt umziehen.«

Noelle ging auf ihre Garderobe zu, er ging neben ihr her.

»Ich komme mit«, sagte Oberst Muller.

Sie betrat ihre Garderobe, den haarlosen Albino dicht auf den Fersen. Er machte es sich in einem Lehnstuhl bequem. Noelle zogerte einen Augenblick und begann sich dann auszuziehen, wahrend er ihr gleichgultig zusah. Sie wusste, dass er homosexuell war, und das beraubte sie einer wertvollen Waffe – ihrer sexuellen Anziehungskraft.

»Ein kleiner Spatz flusterte mir etwas ins Ohr«, sagte Oberst

Muller. »Er wird heute Abend einen Fluchtversuch machen.«

Noelles Herz setzte einen Augenblick aus, aber ihr Gesicht verriet nichts. Sie begann sich abzuschminken und versuchte Zeit zu gewinnen, indem sie fragte: »Wer wird heute Abend einen Fluchtversuch machen?«

»Ihr Freund Israel Katz.«

Noelle drehte sich jah um, und diese Bewegung brachte ihr plotzlich zum Bewusstsein, dass sie ohne Bustenhalter war. »Ich kenne keinen —« Sie sah das schnelle, triumphierende Aufleuchten in seinen rosa Augen und bemerkte die Falle gerade noch rechtzeitig. »Warten Sie«, sagte sie, »sprechen Sie von einem jungen Assistenzarzt?«

»Ah, Sie erinnern sich also an ihn!«

»Kaum. Er behandelte mich vor einiger Zeit wegen einer Lungenentzundung.«

»Und wegen einer selbst herbeigefuhrten Abtreibung«, sagte Oberst Muller mit seiner leisen, hohen Stimme. Furcht erfullte sie wieder. Die Gestapo hatte sich nicht solche Muhe gegeben, wenn sie nicht mit Sicherheit wusste, dass sie in die Sache verwickelt war. Sie war eine Narrin, sich in so etwas eingelassen zu haben; aber bei diesem Gedanken war ihr klar, dass es zu spat zum Ruckzug war. Die Rader hatten sich bereits in Bewegung gesetzt, und in ein paar Stunden wurde Israel Katz entweder frei... oder tot sein. Und sie ?

Oberst Muller sagte gerade: »Sie behaupteten, Sie hatten Katz zum letzten Mal vor ein paar Wochen in dem Cafe gesehen.«

Noelle schuttelte den Kopf. »Ich habe nie so etwas gesagt, Oberst.«

Oberst Muller blickte ihr fest in die Augen und lie? den Blick dann unverschamt uber ihre nackten Bruste und an ihrem Korper hinunter bis zu ihrem durchsichtigen Hoschen gleiten. »Ich liebe schone Dinge«, sagte er sanft. »Es ware eine Schande, eine Schonheit wie die Ihre zerstort zu sehen. Und all das fur einen Mann, der Ihnen nichts bedeutet. Auf welche Weise beabsichtigt Ihr Freund zu entkommen, Mademoiselle?«

Seine Stimme war von einer Ruhe, die ihr das Blut in den Adern erstarren lie?. Sie wurde zu Annette, der unschuldigen, hilflosen Person in ihrem Stuck.

»Ich wei? wirklich nicht, wovon Sie sprechen, Oberst. Ich wurde Ihnen gerne helfen, aber ich wei? nicht, wie.«

Oberst Muller blickte Noelle lange an, dann erhob er sich formlich. »Ich werde es Ihnen beibringen, Mademoiselle«, versprach er ihr sanft, »und es wird mir Spa? machen.«

An der Tur drehte er sich um und spielte seinen letzten Trumpf aus. »A propos, ich habe General Scheider geraten, nicht mit Ihnen ubers Wochenende wegzufahren.«

Noelle fuhlte, wie ihr Herz bleischwer wurde. Es war zu spat, Israel Katz zu erreichen. »Stecken Obersten immer ihre Nase in das Privatleben von Generalen?«

»In diesem Falle nicht«, sagte Oberst Muller bedauernd. »General Scheider beabsichtigt, sein Rendezvous einzuhalten.« Er drehte sich um und ging hinaus.

Noelle starrte ihm nach, ihr Herz klopfte wie wild. Sie blickte auf die goldene Uhr auf ihrem Frisiertisch und begann, sich schnell anzukleiden.

Um elf Uhr funfundvierzig rief der Concierge an und sagte Noelle, General Scheider sei gerade im Aufzug auf dem Weg zu ihrem Appartement. Seine Stimme zitterte.

»Ist sein Chauffeur im Wagen geblieben?« fragte Noelle.

»Nein, Mademoiselle«, erwiderte der Concierge mit Nachdruck. »Er fahrt zusammen mit dem General hinauf.«

»Danke.«

Noelle legte den Horer des Haustelefons auf und eilte ins Schlafzimmer, um ihr Gepack noch einmal zu uberprufen. Sie durfte keinen Fehler machen. Die Turglocke lautete, Noelle ging ins Wohnzimmer und offnete die Tur.

General Scheider stand im Flur, sein Chauffeur, ein junger

Hauptmann, hinter ihm. General Scheider war in Zivil und wirkte sehr distinguiert in seinem tadellos geschnittenen dunkelgrauen Anzug, einem weichen blauen Hemd und einer schwarzen Krawatte. »Guten Abend«, sagte er formlich. Er trat ein und gab seinem Chauffeur einen Wink.

»Mein Gepack ist im Schlafzimmer«, sagte Noelle. Sie zeigte auf die Tur.

»Danke, Mademoiselle.« Der Hauptmann ging ins Schlafzimmer. General Scheider ging auf Noelle zu und nahm ihre Hande. »Wissen Sie, dass ich den ganzen Tag an Sie gedacht habe?« fragte er. »Ich dachte, Sie wurden vielleicht nicht da sein, hatten es sich anders uberlegt. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, bekam ich Angst.«

Вы читаете Jenseits von Mitternacht
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату