»Gerade fallt mir ein«, sagte Noelle, »ein Freund wird anrufen. Ich muss ihm eine Nachricht hinterlassen«
General Scheider packte ihren Arm.
»Zu spat«, lachelte er. »Von diesem Augenblick an durfen Sie nur an mich denken.« Und er half ihr in den Wagen. Einen Augenblick spater waren sie unterwegs.
Funf Minuten nachdem General Scheiders Limousine abgefahren war, hielt quietschend ein schwarzer Mercedes vor dem Haus, und Oberst Muller und zwei andere Gestapoleute sprangen aus dem Wagen. Oberst Mullers Augen suchten eilig die Stra?e ab. »Sie sind weg«, sagte er. Die Manner hasteten in den Hauseingang und klingelten an der Tur des Concierge. Die
Tur offnete sich, und der Concierge stand mit erschrockenem Gesicht auf der Schwelle. »Was -?« Oberst Muller schob ihn in seine kleine Wohnung zuruck.
»Mademoiselle Page!« fuhr er ihn an. »Wo ist sie?«
Der Concierge starrte ihn an, von panischer Angst erfullt.
»Sie – sie ist verreist«, sagte er.
»Das wei? ich, Sie Idiot! Ich habe Sie gefragt, wohin sie gefahren ist!«
Der Concierge schuttelte hilflos den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, Monsieur. Ich wei? nur, dass sie mit einem Offizier weggefahren ist.«
»Hat sie Ihnen nicht gesagt, wo man sie erreichen kann?«
»N-nein, Monsieur. Mademoiselle Page zieht mich nicht ins Vertrauen.«
Oberst Muller blickte den alten Mann einen Augenblick lang wutend an, dann drehte er sich auf dem Absatz um.
»Sie konnen noch nicht weit gekommen sein«, sagte er zu seinen Leuten. »Nehmen Sie so schnell wie moglich mit allen Stra?ensperren Verbindung auf. Sagen Sie ihnen, wenn General Scheiders Wagen bei ihnen vorbeikommt, haben sie ihn anzuhalten und mich sofort zu verstandigen.«
Der spaten Stunde wegen war der militarische Verkehr gering, was bedeutete, dass es praktisch gar keinen Verkehr gab. General Scheiders Wagen bog in die Westroute ein, die aus Paris uber Versailles hinausfuhrte. Sie fuhren durch Mantes, Vernon und Gaillon, und in funfundzwanzig Minuten naherten sie sich bereits der gro?en Kreuzung, von der aus man nach Vichy, Le Havre und der Cote d'Azur abzweigte.
Es kam Noelle wie ein Wunder vor. Sie wurden aus Paris herauskommen, ohne angehalten zu werden. Sie hatte wissen mussen, dass die Deutschen trotz ihrer Tuchtigkeit nicht jede einzelne aus der Stadt fuhrende Stra?e uberwachen konnten. Und kaum hatte sie das gedacht, da ragte vor ihnen eine Stra?ensperre aus der Dunkelheit. Rote Lichter blinkten von der Stra?enmitte, und hinter den Lichtern versperrte ein deutscher Militarlastwagen die Landstra?e. Am Stra?enrand befanden sich ein halbes Dutzend deutsche Soldaten und zwei franzosische Polizeiwagen. Ein deutscher Leutnant brachte die Limousine durch Winken zum Halten, und als der Wagen stand, trat er an den Fahrer heran.
»Steigen Sie aus und zeigen Sie Ihre Papiere!«
General Scheider offnete das ruckwartige Fenster, streckte den Kopf hinaus und sagte gereizt: »General Scheider. Was zum Teufel geht hier vor?«
Der Leutnant nahm Haltung an.
»Entschuldigen Sie, Herr General. Ich wusste nicht, dass es Ihr Wagen war.«
Die Augen des Generals streiften die Stra?ensperre. »Wozu das alles?«
»Wir haben Befehl, jedes Paris verlassende Fahrzeug zu inspizieren, Herr General. Alle Ausgange aus der Stadt sind gesperrt.«
Der General wandte sich Noelle zu. »Die verdammte Gestapo. Es tut mir leid, Liebchen.«
Noelle spurte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich, und sie war froh, dass es im Wageninnern dunkel war. Als sie sprach, klang ihre Stimme beherrscht.
»Es macht nichts«, sagte sie.
Sie dachte an die Fracht im Kofferraum. Wenn ihr Plan geklappt hatte, lag Israel Katz darin, und gleich wurde man ihn und auch sie fassen.
Der deutsche Leutnant wandte sich an den Chauffeur.
»Offnen Sie bitte den Kofferraum.«
»Er enthalt nur Gepack«, wandte der Hauptmann ein. »Ich habe es selbst hineingetan.«
»Ich bedauere, Herr Hauptmann. Ich habe klaren Befehl. Jedes Fahrzeug, das Paris verlasst muss untersucht werden. Offnen Sie.«
Etwas in sich hineinmurmelnd, offnete der Chauffeur die Tur und schickte sich an auszusteigen. Noelles Gehirn raste fieberhaft. Sie musste etwas erfinden, um das zu verhindern, ohne Verdacht zu erwecken. Der Chauffeur hatte den Wagen verlassen. Die Zeit war um. Noelle blickte verstohlen auf General Scheiders Gesicht. Seine Augen hatten sich verengt, und seine Lippen waren vor Zorn zusammengepresst. Sie drehte sich zu ihm und sagte arglos: »Sollen wir aussteigen, Hans? Werden sie uns durchsuchen?« Sie konnte spuren, wie sich sein Korper vor Wut straffte.
»Warten Sie!« Die Stimme des Generals war wie ein Peitschenhieb. »Steigen Sie wieder ein«, befahl er seinem Chauffeur. Er wandte sich an den Leutnant, und seine Stimme bebte vor Zorn. »Sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, dass Ihre Befehle nicht fur Generale des Deutschen Heeres gelten. Ich nehme keine Befehle von Leutnanten entgegen. Raumen Sie die Stra?ensperre aus dem Weg.« Der ungluckselige Leutnant starrte in das wutende Gesicht des Generals, schlug die Hacken zusammen und sagte: »Jawohl, Herr General.« Er gab dem Fahrer des Lastwagens, der die Stra?e versperrte, ein Zeichen, und der Wagen rumpelte zur Seite.
»Weiterfahren«, befahl General Scheider.
Langsam sank Noelle in ihren Sitz zuruck. Die Spannung lie? nach, die Krise war uberstanden. Wenn sie nur wusste, ob Israel Katz im Kofferraum des Wagens war. Und ob er am Leben war.
General Scheider drehte sich zu Noelle um; sie spurte, dass er vor Zorn noch ganz au?er sich war.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er mude. »Das ist ein seltsamer Krieg. Manchmal ist es notig, die Gestapo daran zu erinnern, dass Kriege von Armeen gefuhrt werden.«
Noelle lachelte ihn an und hakte sich bei ihm ein. »Und Armeen werden von Generalen angefuhrt.«
»So ist es«, stimmte er zu. »Armeen werden von Generalen
angefuhrt. Ich werde Oberst Muller eine Lektion erteilen mussen.«
Zehn Minuten nachdem General Scheiders Wagen die Stra?ensperre passiert hatte, kam ein Anruf vom GestapoHauptquartier mit dem Befehl, nach dem Wagen Ausschau zu halten.
»Er ist bereits hier durchgekommen«, berichtete der Leutnant, und eine bose Ahnung stieg in ihm auf. Einen Augenblick spater war Oberst Muller am Apparat.
»Wie lange ist das her?« fragte der Gestapo-Offizier sanft.
»Zehn Minuten.«
»Haben Sie den Wagen durchsucht?«
Der Leutnant fuhlte, wie ihm das Herz in die Hosen fiel. »Nein, Herr Oberst. Der General wollte es nicht zulassen«
»Schei?e! Welche Richtung hat er eingeschlagen?« Der Leutnant schluckte. Als er wieder sprach, war es mit der hoffnungslosen Stimme eines Mannes, der wei?, dass seine Karriere beendet ist.
»Ich bin nicht sicher«, antwortete er. »Hier ist eine gro?e Kreuzung. Er konnte entweder landeinwarts nach Rouen oder zum Meer, nach Le Havre, gefahren sein.«
»Sie melden sich morgen Vormittag um 9 Uhr im GestapoHauptquartier bei mir.«
»Jawohl, Herr Oberst«, antwortete der Leutnant.
Wutend legte Oberst Muller den Horer auf. Er wandte sich an die beiden Manner an seiner Seite und sagte: »Le Havre. Lassen Sie vorfahren. Wir gehen auf die Schabenjagd!«
Die Stra?e nach Le Havre fuhrt die Seine entlang, durch das schone Seine-Tal mit seinen fruchtbaren Hugeln und reichen Bauernhofen. Es war eine klare, sternhelle Nacht, und die Bauernhauser in der Ferne waren kleine Lichtpunkte, Oasen in der Dunkelheit.
Noelle und General Scheider unterhielten sich auf dem bequemen Rucksitz der Limousine. Er sprach von seiner Frau und seinen Kindern und wie schwierig es fur einen Offizier sei, verheiratet zu sein. Noelle horte mitfuhlend zu und erklarte ihm, wie schwierig es fur eine Schauspielerin sei, ein Privatleben zu haben. Jeder von ihnen wusste genau, dass die Unterhaltung ein Spiel war, beide hielten die Konversation auf einem oberflachlichen