Der Graf sagte: »Dies hier ist eine wilde Gegend. Das Land ist felsig und ungastlich. Im besten Fall sind die Ernten durftig, und wenn das Wetter schlecht war, gibt es uberhaupt keine Ernte, aber dafur viel Hunger.« Seine Stimme verklang.

»Erzahlen Sie weiter«, drangte Catherine.

»Vor einigen Jahren herrschte hier ein schwerer Sturm, und die Ernte wurde vernichtet. Es gab fur alle nur sehr wenig zu essen. Im ganzen Gebiet wurden die Hirtenhunde rebellisch. Sie verlie?en die Hofe, zu denen sie gehorten, und rotteten sich in gro?en Rudeln zusammen.« Als er weiter sprach, versuchte er, das Entsetzen aus seiner Stimme zu verbannen. »Sie begannen die Hofe anzugreifen.«

»Und toteten die Schafe?« fragte Catherine beklommen.

Er schwieg kurz, ehe er antwortete. »Nein. Sie toteten ihre Herren. Und fra?en sie auf.«

Catherine starrte ihn tief schockiert an.

»Man musste aus Athen Truppen entsenden, um die menschliche Herrschaft hier wiederherzustellen. Es dauerte beinahe einen Monat.«

»Wie grasslich.«

»Der Hunger lost entsetzliche Dinge aus«, sagte Graf Pappas ruhig.

Die Schafe hatten jetzt die Stra?e geraumt. Catherine sah noch einmal zu dem Hirtenhund hinuber und schauderte.

Im Laufe der Wochen begannen fur Catherine die Dinge, die ihr so fremd und seltsam erschienen waren, vertraut zu werden. Sie fand die Menschen offen und freundlich. Sie wusste bald, wo sie ihre Besorgungen machen und wo sie in der Voukou-restiou-Stra?e ihre Kleider kaufen konnte. Griechenland war ein Wunder an organisierter Untuchtigkeit, und das musste man hinnehmen und genie?en. Niemand hatte es eilig, und wenn man jemanden nach der Richtung fragte, konnte man sicher sein, dass er einen dahin brachte, wohin man wollte. Oder wenn man ihn fragte, wie weit es sei, antwortete er vielleicht: »Enos sigarou dromos.« Catherine lernte, dass das »Eine Zigarettenlange weit« hie?. Sie wanderte durch die Stra?en und erforschte die Stadt und trank den warmen, dunklen Wein des griechischen Sommers.

Catherine und Larry besuchten Mykonos mit seinen farbenfrohen Windmuhlen und Melos, wo die Venus von Milo gefunden worden war. Aber Catherines Lieblingsort war Paros, eine anmutige grune Insel, die von einem Bluten ubersaten Berg gekront wurde. Als ihr Boot anlegte, stand ein Fuhrer am Kai. Er fragte, ob er sie auf Maultieren auf den Gipfel des Berges bringen sollte, und sie bestiegen zwei knochige Maultiere.

Catherine trug einen breitkrempigen Strohhut zum Schutz vor der hei?en Sonne. Als sie und Larry den steilen Pfad zum Berggipfel hinauf ritten, riefen ihnen schwarzgekleidete Frauen »kalimera« zu und reichten Catherine frische Krauter als Geschenk, Oregano und Basilikum, die sie unter ihr Hutband stecken sollte. Nach einem zweistundigen Ritt erreichten sie ein Plateau, eine schone Baumbestandene Ebene, die von Millionen prachtiger Blumen bedeckt war. Der Fuhrer hielt die Maultiere an, und sie bestaunten diese unglaubliche Farbenpracht.

»Es hei?en Tal der Schmetterlinge«, sagte der Fuhrer in unbeholfenem Englisch.

Catherine sah sich nach einem Schmetterling um, entdeckte aber keinen. »Warum hei?t es denn so?« fragte sie.

Der Fuhrer lachelte ganz so, als ob er auf diese Frage gewartet hatte. »Ich zeige Ihnen«, sagte er. Er stieg von seinem

Maultier und ergriff einen gro?en abgefallenen Ast. Er ging auf einen Baum zu und schlug mit aller Wucht den Ast gegen den Stamm. Im Bruchteil einer Sekunde stiegen die »Bluten« von Hunderten von Baumen plotzlich in einem wilden Regenbogen der Flucht in die Luft und lie?en die Baume kahl zuruck. Die Luft erfullten Hunderttausende farbenfroher Schmetterlinge, die im Sonnenlicht tanzten.

Catherine und Larry bewunderten den Anblick. Der Fuhrer beobachtete die beiden. Sein Gesicht verriet tiefen Stolz, als ob er glaubte, das schone Wunder geschaffen zu haben, das sie vor sich sahen. Es war einer der schonsten Tage in Catherines Leben, und sie dachte, wenn sie sich einen vollkommenen Tag aussuchen konnte, um ihn noch einmal zu erleben, dann ware es dieser Tag, den sie mit Larry auf Paros verbrachte.

»He, wir kriegen heute morgen eine VIP.« Paul Metaxas grinste vergnugt. »Warte, bis du sie siehst.«

»Wer ist es denn?«

»Noelle Page, die Dame des Chefs. Du darfst sie ansehen, aber nicht anfassen.«

Larry Douglas erinnerte sich an den kurzen Anblick, den er von der Frau in Demiris' Haus am Morgen seiner Ankunft in Athen gehabt hatte. Sie war eine Schonheit und kam ihm bekannt vor, aber naturlich nur deshalb, weil er sie auf der Leinwand gesehen hatte, in einem franzosischen Film, in den Catherine ihn einmal mitschleifte. Niemand brauchte Larry die Lehren der Selbsterhaltung beizubringen. Selbst wenn die Welt nicht von willigen weiblichen Wesen erfullt gewesen ware, hatte er sich niemals in irgendeiner Weise der Freundin von Constantin Demiris genahert. Larry liebte seine Arbeit zu sehr, um sie durch eine derartige Dummheit zu gefahrden. Nun, vielleicht wurde er sie um ihr Autogramm fur Catherine bitten.

Die Limousine, die Noelle zum Flughafen brachte, wurde mehrmals durch Arbeitertrupps aufgehalten, die die Stra?e reparierten, aber Noelle war die Verzogerung nur recht. Zum ersten Mal seit der Begegnung in Demiris' Haus wurde sie Larry Douglas sehen. Noelle war tief getroffen von dem, was sich ereignet hatte. Oder richtiger, von dem, was sich nicht ereignet hatte. Im Lauf der vergangenen sechs Jahre hatte Noelle sich ihre Wiederbegegnung auf hunderterlei verschiedene Weise vorgestellt. In Gedanken hatte sie die Szene wieder und wieder durchgespielt. Aber nie ware sie darauf gekommen, dass Larry sie nicht wieder erkennen wurde. Das wichtigste Ereignis in ihrem Leben war fur ihn nur eine belanglose Affare gewesen, eine von Hunderten. Nun, ehe sie mit ihm fertig war, wurde er sich an sie erinnern.

Larry uberquerte den Flugplatz, den Flugplan in der Hand, als eine Limousine vor dem gro?en Flugzeug vorfuhr und Noelle Page ausstieg. Larry ging zum Wagen und sagte hoflich: »Guten Morgen, Miss Page. Ich bin Larry Douglas und werde Sie und Ihre Gaste nach Cannes bringen.«

Noelle wendete sich ab und ging an ihm vorbei, so als ob er nichts gesagt hatte, als ob er nicht existierte. Larry stand da, blickte ihr ratlos nach.

Drei?ig Minuten spater waren die anderen Passagiere, ein Dutzend, an Bord der Maschine, und Larry und Paul Metaxas starteten. Sie flogen die Gruppe an die Cote d'Azur, wo sie abgeholt und auf Demiris' Jacht gebracht werden sollte. Es war ein leichter Flug, abgesehen von den im Sommer normalen Turbulenzen vor der sudfranzosischen Kuste. Larry setzte die Maschine weich auf und rollte zu der Stelle, wo einige Wagen auf seine Passagiere warteten. Als Larry mit seinem untersetzten kleinen Kopiloten ausstieg, ging Noelle auf Metaxas zu, ignorierte Larry vollig und sagte in verachtlichem Ton: »Der neue Pilot ist ein Stumper, Paul. Sie sollten ihm ein paar Flugstunden geben.« Danach ging sie zu einem der Wagen, fuhr ab und lie? Larry benommen und hilflos vor Arger zuruck.

Er trostete sich damit, dass sie eine verdammte Hexe ware und er sie wahrscheinlich an einem schlechten Tag erwischt hatte. Aber der nachste Zwischenfall, zu dem es eine Woche spater kam, uberzeugte ihn, dass er vor einem ernsthaften Problem stand.

Auf Demiris' Befehl hin holte er Noelle in Oslo ab, um sie nach London zu fliegen. Aufgrund seiner fruheren Erfahrungen arbeitete er seinen Flugplan mit besonderer Sorgfalt aus. Im Norden lag ein Hochdruckgebiet, und im Osten konnte sich womoglich eine Gewitterfront bilden. Larry stellte seinen Flugplan fur eine Route auf, die diese Gebiete umging, und der Flug erwies sich als vollkommen ruhig. Er brachte die Maschine in einer makellosen Dreipunktlandung auf den Boden. Danach begaben er und Paul Metaxas sich nach hinten in die Passagierkabine. Noelle Page trug gerade Lippenstift auf. »Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, Miss Page«, sagte Larry respektvoll.

Noelle blickte kurz mit ausdruckslosem Gesicht auf und wandte sich dann an Paul Metaxas: »Ich bin immer nervos, wenn ich mit einem unfahigen Piloten fliege.«

Larry spurte, wie er rot wurde. Er wollte etwas erwidern, aber Noelle sagte zu Metaxas: »Bitte sagen Sie ihm, er soll in Zukunft nicht mit mir sprechen, wenn ich ihn nicht anrede.«

Metaxas schluckte und sagte: »Jawohl, Madame.«

Larry starrte Noelle wuterfullt an, als sie aufstand und das Flugzeug verlie?. Ware er seinem Impuls gefolgt, dann hatte er sie geohrfeigt, aber er wusste, dass das sein Ende bedeuten wurde. Er liebte seine Arbeit mehr als alles andere je zuvor und wollte sie nicht gefahrden. Er wusste, wenn er seine Stellung verlor, wurde er nie wieder irgendwo als Pilot unterkommen. Nein, lieber wollte er in Zukunft sehr vorsichtig sein.

Als Larry nach Hause kam, sprach er mit Catherine uber den Vorfall.

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