umgedreht und beobachtete sie. Catherine tastete sich langsam vor, hielt sich mit einer Hand an dem Seil fest und versuchte, nicht in den Abgrund zu blicken. Larry konnte die Angst auf ihrem Gesicht sehen. Als Catherine Larrys Seite erreichte, zitterte sie, entweder vor Schrecken oder von dem kalten Wind, der von den schneebedeckten Berggipfeln herunter strich.

Catherine sagte: »Ich glaube nicht, dass ich zum Bergsteiger geschaffen bin. Konnten wir jetzt zuruck, Liebling?«

Larry sah sie uberrascht an. »Aber wir haben doch noch gar nichts von der Aussicht gesehen, Cathy.«

»Was ich davon gesehen habe, reicht mir mein Leben lang.«

Er schob seinen Arm unter den ihren. »Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte er lachelnd. »Da vor uns ist eine schone ruhige Stelle fur unser Picknick. Dort machen wir Rast. Was meinst du?«

Catherine nickte zogernd. »Also gut.«

»So ist es recht.«

Larry lachelte sie fluchtig an, drehte sich um und stieg weiter bergauf. Catherine folgte ihm. Sie musste zugeben, dass der Blick auf den Ort und das Tal tief unten atemberaubend schon war, ein friedliches, idyllisches Bild wie aus einem Reiseprospekt. Jetzt war sie froh, dass sie mitgekommen war. Es war sehr lange her, seit sie Larry zum letzten Mal so begeistert gesehen hatte. Er schien von einer Erregung besessen zu sein, die standig wuchs, je hoher sie kamen. Sein Gesicht war gerotet, und er plauderte von allen moglichen Nichtigkeiten, als ob er standig reden musste, um einen Teil seiner nervosen Spannung abzureagieren. Alles schien ihn zu begeistern: der Aufstieg, die Aussicht, die Blumen neben dem Weg. Jede Sache schien eine au?ergewohnliche Bedeutung fur ihn anzunehmen, als ob seine Sinne uber das normale Ma? angespornt wurden. Er stieg muhelos aufwarts, war nicht einmal au?er Atem, wahrend die standig dunner werdende Luft Catherine keuchen lie?.

Ihre Fu?e wurden bleischwer. Ihr Atem ging jetzt in muhsamen Sto?en. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon bergauf kletterten, doch wenn sie hinabblickte, war das Dorf nicht mehr als eine Miniatur. Es schien Catherine, dass der Pfad steiler und schmaler wurde. Er wand sich an einem steilen Abhang entlang, und Catherine hielt sich so nahe an der Bergseite, wie sie nur konnte. Larry hatte gesagt, es ware ein leichter Weg. Fur eine Bergziege vielleicht, dachte Catherine. Der Pfad war fast nicht mehr vorhanden, und nirgends war ein Anzeichen zu entdecken, dass er von jemandem begangen wurde. Die Blumen waren verschwunden, und die einzige Vegetation bestand aus Moos und braunlichen Flechten, die aus dem Fels zu wachsen schienen. Catherine war sich nicht sicher, wie lange sie noch weiterklettern konnte. Als sie um eine scharfe Biegung kamen, brach der Pfad plotzlich vollig ab, und vor ihren Fu?en lag ein schwindelerregender Abgrund.

»Larry!« Es war wie ein Schrei.

Er war augenblicklich an Catherines Seite. Er packte sie am Arm und zog sie zuruck, half ihr uber Felsen hinweg zu der Stelle, wo der Pfad weiterfuhrte. Catherines Herz klopfte wild. Ich muss verruckt sein, dachte sie, ich bin zu alt, um auf Safaris zu gehen. Von der Hohe und der Anstrengung war ihr schwindlig, und ihr drohnte der Kopf. Sie drehte sich zu Larry um, wollte etwas sagen, und uber ihm, nach der nachsten Biegung, sah sie den Gipfel des Berges. Sie waren am Ziel.

Catherine lag auf dem flachen Boden und gewann ihre Krafte zuruck, spurte, wie der kalte Wind in ihrem Haar spielte. Der Schrecken war verflogen. Jetzt brauchte sie nichts mehr zu furchten. Larry hatte gesagt, der Abstieg ware leicht. Larry setzte sich neben sie.

»Fuhlst du dich besser?« fragte er.

Sie nickte. »Ja^« Ihr Herz schlug nicht mehr so heftig, und sie begann wieder normal zu atmen. Sie holte tief Luft und lachelte zu ihm auf. »Den schweren Teil haben wir doch hinter uns?« fragte sie.

Larry blickte sie nachdenklich an. Dann sagte er: »Ja, er liegt hinter uns, Cathy.«

Catherine stutzte sich auf einen Ellbogen. Auf dem kleinen Gipfelplateau war eine Beobachtungsplattform aus Holz angelegt worden. Ein altes Gelander fasste sie ein. Von dort hatte man einen uberwaltigenden Ausblick auf ein herrliches Panorama. Wenige Schritte weiter erkannte Catherine den Pfad, der auf der anderen Seite des Berges hinabfuhrte.

»Oh, Larry, wie ist das schon!« rief Catherine aus. »Ich komme mir vor wie Magellan.« Sie lachelte ihm zu, aber Larry blickte weg, und Catherine merkte, dass er ihr nicht zuhorte. Er schien in Gedanken verloren zu sein – gespannt, als ob ihn etwas beunruhigte. Catherine blickte auf und sagte: »Sieh mal da!« Eine schaumige wei?e Wolke kam auf sie zu, getrieben von dem frischen Bergwind. »Sie kommt zu uns heruber. Ich habe noch nie in den Wolken gestanden. Es muss wie im Himmel sein.«

Larry sah, wie Catherine aufstand und zu dem bruchigen holzernen Gelander am Rand des Abgrunds trat. Auf die Ellbogen gestutzt, beugte sich Larry, plotzlich aufmerksam geworden, vor und beobachtete die auf Catherine zu treibende Wolke. Sie hatte sie nahezu erreicht und hullte sie langsam ein.

»Ich werde mittendrin stehen«, rief sie ihm zu, »und sie direkt durchziehen lassen!«

Einen Augenblick spater war Catherine in dem wirbelnden grauen Dunst verschwunden.

Leise erhob sich Larry vom Boden. Einen Augenblick lang blieb er regungslos stehen, dann bewegte er sich lautlos zu ihr hin. Sekunden spater war er im Nebel untergetaucht. Er hielt inne, er wusste nicht genau, wo er sich befand. Dann horte er vor sich ihre Stimme: »O Larry, das ist wunderbar, komm zu mir.«

Langsam bewegte er sich in der Richtung des Tons ihrer von der Wolke gedampften Stimme. »Es ist wie ein milder Regen«, rief sie. »Kannst du es spuren?« Die Stimme war jetzt naher, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Er machte einen weiteren

Schritt vorwarts, tastete mit ausgestreckten Handen nach ihr.

»Larry, wo bist du?«

Jetzt konnte er ihre Gestalt wahrnehmen, schattenhaft im Nebel, unmittelbar vor sich, dicht am Rand des Abgrunds. Seine Hande streckten sich nach ihr aus, und in diesem Augenblick zog die Wolke an ihnen voruber. Sie drehte sich um, und sie standen einander gegenuber, kaum einen Meter voneinander entfernt.

Uberrascht trat sie einen Schritt zuruck, so dass ihr rechter Fu? unmittelbar am Rand des Abgrunds stand. »Oh, du hast mich erschreckt!« rief sie aus.

Larry trat einen weiteren Schritt auf sie zu, lachelte sie aufmunternd an und streckte beide Hande nach ihr aus. In diesem Augenblick vernahm er eine laute Stimme hinter sich, die sagte: »Alles, was recht ist, bei uns in Denver haben wir aber hohere Berge als den da.«

Erschrocken fuhr Larry herum. Sein Gesicht war wei?. Eine Gruppe Touristen mit einem griechischen Fuhrer tauchte auf dem Pfad auf, der auf der anderen Seite des Berges herauffuhrte. Der Fuhrer blieb stehen, als er Catherine und Larry sah.

»Guten Morgen«, sagte er uberrascht. »Sie mussen auf der Ostseite heraufgestiegen sein.«

»Ja«, antwortete Larry knapp.

Der Fuhrer schuttelte den Kopf. »Das ist Wahnsinn. Man hatte Ihnen sagen sollen, dass dieser Weg sehr gefahrlich ist. Der andere Aufstieg ist viel leichter.«

»Das nachste Mal werde ich dran denken«, sagte Larry. Seine Stimme klang heiser.

Die Erregung, die Catherine an ihm beobachtet hatte, schien verflogen, als ob plotzlich ein Schalter ausgeknipst worden ware.

»Sehen wir zu, dass wir hier fortkommen«, sagte Larry.

»Aber – wir sind doch gerade erst gekommen. Ist etwas los?«

»Nein«, entgegnete er schroff. »Ich hasse blo? Pobelansammlungen.«

Sie nahmen den leichten Pfad bergab, und unterwegs sprach Larry kein Wort. Er schien von eiskalter Wut erfullt zu sein, und Catherine wusste nicht, warum. Sie war uberzeugt, dass sie nichts gesagt oder getan hatte, woruber er gekrankt sein konnte. Als die anderen Leute aufgetaucht waren, hatte sich sein Verhalten abrupt geandert. Plotzlich glaubte Catherine, den Grund fur seine schlechte Laune erraten zu haben, und lachelte. Er hatte sie in der Wolke lieben wollen! Deshalb war er mit ausgestreckten Armen auf sie zugekommen. Und seine Absicht war durch die Touristengruppe vereitelt worden. Beinahe hatte sie vor Freude laut herausgelacht. Sie beobachtete Larry, der vor ihr den Pfad hinab schritt, und ein Gefuhl der Warme erfullte sie. Ich werde es wiedergutmachen, wenn wir im Hotel sind, gelobte sie sich.

Doch als sie in ihren Bungalow zuruckkehrten und sie die Arme um ihn legte und ihn kusste, wehrte Larry sie ab und sagte, er sei mude.

Noch um drei Uhr morgens lag Catherine wach in ihrem Bett, sie war zu erregt, um zu schlafen. Der Tag war lang und voller unerwarteter Angste gewesen. Sie dachte an den Bergpfad und den schwankenden Steg und die Kletterei uber den nackten Fels. Schlie?lich schlief sie doch ein.

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