Am nachsten Morgen ging Larry zum Empfangschef.

»Sie haben neulich von diesen Hohlen gesprochen«, sagte er.

»Ja«, antwortete der Empfangschef, »die Hohlen von Perama. Sehr farbig, sehr interessant. Sie durfen Sie sich nicht entgehen lassen.«

»Ich werde sie mir wohl ansehen mussen«, sagte Larry leichthin. »Ich selbst mache mir nichts aus Hohlen, aber meine Frau hat von ihnen gehort und bedrangt mich standig, mit ihr hinzugehen. Sie hat eine Vorliebe fur abenteuerliche Unternehmen.«

»Ich bin uberzeugt, sie werden Ihnen beiden gefallen, Mr.

Douglas. Versaumen Sie aber nicht, einen Fuhrer zu nehmen.«

»Braucht man denn einen?« fragte Larry.

Der Empfangschef nickte. »Es ist unbedingt zu empfehlen. Es ist ein paar Mal zu Tragodien gekommen, weil Besucher sich verirrten.« Er senkte die Stimme. »Ein junges Paar ist bis auf den heutigen Tag noch nicht wieder gefunden worden.«

»Wenn es so gefahrlich ist«, fragte Larry, »warum lasst man die Leute dann hinein?«

»Nur die neu entdeckten Teile sind gefahrlich«, erklarte der Empfangschef. »Sie sind noch nicht ausreichend erforscht und haben keine Beleuchtung. Aber mit einem Fuhrer brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

»Um welche Zeit werden die Hohlen geschlossen?«

»Um sechs.«

Larry fand Catherine im Freien unter einem riesigen Oxya-baum, der schonen griechischen Eiche, ausgestreckt. Sie las.

»Wie ist das Buch?« fragte er.

»Man konnte darauf verzichten.«

Er hockte sich neben sie. »Der Empfangschef hat mir etwas von Hohlen hier in der Nahe erzahlt.«

Etwas alarmiert blickte Catherine auf. »Hohlen?«

»Er sagt, man musste sie gesehen haben. Alle Hochzeitsreisenden gehen hin. Wenn man sich in den Hohlen etwas wunscht, geht der Wunsch in Erfullung.« Seine Stimme klang jungenhaft und ungestum. »Was haltst du davon?«

Catherine zogerte einen Augenblick. Sie dachte, was fur ein kleiner Junge Larry in Wirklichkeit war. »Wenn du es gern mochtest«, antwortete sie.

Er lachelte. »Fein«, sagte er. »Wir gehen nach dem Mittagessen. Ich fahre schnell in den Ort, um etwas zu besorgen.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nein«, antwortete er, »ruh dich nur aus. Ich bin bald wieder da.«

Sie nickte. »Gut.«

Er drehte sich um und ging.

Im Ort fand Larry einen kleinen Gemischtwarenladen, in dem er eine Taschenlampe, Ersatzbatterien und ein dickes Knauel Schnur kaufen konnte.

»Wohnen Sie im Hotel oben?« fragte der Ladenbesitzer, als er Larry das Wechselgeld herausgab.

»Nein«, antwortete Larry, »ich bin nur auf der Durchreise hier, auf dem Weg nach Athen.«

»An Ihrer Stelle ware ich vorsichtig«, riet ihm der Mann.

Larry sah ihn scharf an. »Weshalb?«

»Es kommt ein Sturm auf, man kann die Schafe bloken horen.«

Um drei Uhr kehrte Larry ins Hotel zuruck. Um vier Uhr machten Catherine und Larry sich auf den Weg zu den Hohlen. Ein boiger Wind war aufgekommen, und von Norden zogen gro?e Gewitterwolken herauf, die bald die Sonne verdeckten.

Die Hohlen von Perama liegen drei?ig Kilometer ostlich von Ioannina. Im Lauf von Jahrhunderten hatten sich dort riesige Stalagmiten und Stalaktiten gebildet, die die Formen von Tieren und Saulen und Portalen angenommen hatten. Die Hohlen waren ein bedeutender Anziehungspunkt fur Touristen.

Als Catherine und Larry ankamen, war es funf Uhr, eine Stunde vor der Schlie?ung. Larry kaufte an der Kasse zwei Eintrittskarten und eine Broschure. Ein schabig gekleideter Fuhrer kam auf sie zu und bot seinen Dienst an.

»Nur funfzig Drachmen«, beteuerte er, »und Sie bekommen von mir die beste Fuhrung.«

»Wir brauchen keinen Fuhrer«, entgegnete Larry kurz angebunden.

Catherine sah ihn an. Sein scharfer Ton uberraschte sie.

Er fasste Catherine unter. »Komm jetzt.«

»Meinst du nicht, dass wir doch einen Fuhrer nehmen sollten?«

»Wozu? Das ist reine Beutelschneiderei. Wir brauchen nur hineinzugehen und uns die Hohle anzusehen. In der Broschure hier steht alles, was wir wissen wollen.«

»Gut«, sagte Catherine nachgiebig.

Der Eingang zur Hohle war gro?er, als sie erwartet hatte. Er war von Flutlichtern hell erleuchtet und wimmelte von Touristen. Wande und Decke der Hohle waren uber und uber mit aus dem Fels gehauenen gewaltigen Figuren bedeckt: Vogeln und Riesen und Blumen und Kronen.

»Das ist phantastisch«, rief Catherine aus. Sie studierte die Broschure. »Niemand wei?, wie alt das ist.«

Ihre Stimme, von der Felsendecke zuruckgeworfen, klang hohl. Uber ihren Kopfen hingen Stalaktiten herunter. Ein in den Fels gehauener Tunnel fuhrte in eine zweite, kleinere Halle, die von an der Decke befestigten nackten Gluhbirnen beleuchtet wurde. Hier waren weitere phantastisch geformte Gebilde, eine wilde, ungeordnete Ansammlung von Kunstwerken der Natur. Am hinteren Ende befand sich ein Schild mit der Aufschrift: Achtung, Gefahr. Nicht weitergehen.

Hinter dem Schild lag der Zugang zu einer gahnend schwarzen Hohle. Larry schlenderte unauffallig darauf zu und sah sich nach allen Seiten um. Catherine betrachtete interessiert ein Steingebilde in der Nahe des Eingangs. Larry nahm das Schild und warf es beiseite. Er kam zu Catherine zuruck.

»Hier ist es feucht«, sagte sie. »Wollen wir nicht wieder gehen?«

»Nein.« Larrys Ton klang entschieden.

Sie sah ihn uberrascht an.

»Es gibt hier noch mehr zu sehen«, erklarte Larry. »Der Empfangschef im Hotel hat mir gesagt, die interessantesten Partien lagen in dem neuen Teil. Er meinte, wir durften uns das nicht entgehen lassen.«

»Wo ist das?« fragte Catherine.

»Dort druben.« Larry nahm sie am Arm, und sie gingen auf den Hintergrund der Hohle zu und blieben vor dem klaffenden schwarzen Loch stehen.

»Da konnen wir nicht hinein«, sagte Catherine. »Es ist ja dunkel drin.«

Larry tatschelte ihren Arm. »Keine Sorge. Er hat mir geraten, eine Taschenlampe mitzunehmen.« Er zog sie aus der Tasche. »Hier. Siehst du?« Er knipste sie an, und ihr dunner Strahl fiel in einen langen, dunklen Gang aus uraltem Fels.

Catherine starrte in den dusteren Tunnel. »Das sieht so weit aus«, sagte sie zweifelnd. »Bist du uberzeugt, dass es sicher ist?«

»Selbstverstandlich«, erwiderte Larry. »Hier werden sogar Schulkinder hergefuhrt.«

Catherine zogerte noch. Sie wunschte, sie konnte in der Nahe der anderen Besucher bleiben. Das hier kam ihr gefahrlich vor. »Also gut«, fugte sie sich.

Sie traten in den Tunnel. Sie waren erst wenige Schritte vorgedrungen, als der Lichtkreis der Haupthohle hinter ihnen von der Finsternis verschlungen wurde. Der Gang bog unvermittelt nach links ab und zog sich dann in einer Kurve nach rechts. Sie waren allein in einer kalten, zeitlosen Urwelt. Im Widerschein der Taschenlampe nahm Catherine gelegentlich kurz Larrys Gesicht wahr und bemerkte den gleichen entschlossenen Ausdruck, den es beim Aufstieg auf den Berg gezeigt hatte. Sie umklammerte seinen Arm.

Vor ihnen lag eine Abzweigung. Catherine konnte die niedrige Felsendecke des Tunnels an der Stelle sehen, an der er in zwei verschiedenen Richtungen weiter verlief. Sie dachte an Theseus und den Minotaurus und fragte sich unwillkurlich, ob sie den beiden hier begegnen wurde. Sie offnete den Mund, um Larry vorzuschlagen umzukehren, doch noch ehe sie sprechen konnte, sagte Larry: »Wir gehen nach links weiter.«

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