einen Moment und legte sich langsam hin. Es war ein Akt der Hoffnungslosigkeit, eine Kapitulation. Tracy schlo? die Augen.

Ihr zehnter Geburtstag war der aufregendste Tag ihres Lebens gewesen. Wir gehen zu Antoine's zum Essen! hatte ihr Vater verkundet.

Zu Antoine's! Dieser Namebeschwor eine andere Welt herauf, eine Welt der Schonheit und des Glanzes und des

Reichtums. Tracy wu?te, da? ihr Vater nicht viel Geld hatte. Nachstes Jahr konnen wir uns einen Urlaubleisten. Das war eine stehende Redensartbei ihr zu Hause. Und jetzt gingen sie zu Antoine's! Ihre Mutter zog ihr ein neues grunes Kleid an, ihr Vater platzte fast vor Stolz.

Antoine's ubertraf Tracys kuhnste Traume. Es war marchenhaft. Elegant und geschmackvoll eingerichtet, mit wei?en Leinentischdecken und prachtigem Geschirr. Es ist ein Palast, dachte Tracy. Bestimmt kommen Konige und Koniginnen hierher. Sie war zu aufgeregt, um zu essen, zu sehr damitbeschaftigt, all die schon angezogenen Manner und Frauen zubetrachten. Wenn ich gro?bin, schwor sich Tracy, gehe ich jeden Abend zu Antoine's und nehme meine Eltern mit.

Du i?t ja gar nichts, Tracy, sagte ihre Mutter.

Ihr zuliebe zwang sich Tracy, ein paar Happen zu essen. Siebekam einen Geburtstagskuchen mit zehn Kerzen, und die Kellner sangen HappyBirthday, und die anderen Gaste drehten sich um und klatschtenBeifall, und Tracy fuhlte sich wie eine Prinzessin. Von drau?en horte sie dasBimmeln einer Stra?enbahn.

DasBimmeln der Glocke war laut und penetrant.

«Abendessen«, verkundete Ernestine Littlechap.

Tracy offnete die Augen. Im ganzenBlock flogen krachend die Zellenturen auf. Tracy lag auf ihrer Pritsche und versuchte verzweifelt, sich an der Vergangenheit festzuklammern.

«He! Es gibt Futter!«sagte die junge Puertoricanerin.

Tracy wurde ubelbei demblo?en Gedanken an Essen.»Ich habe keinen Hunger.«

Nun lie? sich Paulita vernehmen, die dicke Mexikanerin.»Das ist denen schei?egal. Alle mussen in die Kantine.«

Drau?en auf dem Flur stellten sich Gefangene in Zweierreihen auf.

«Jetzt hebmal den Arsch von der Pritsche, sonst kriegen sie dich dran«, sagte Ernestine warnend.

Ich kann nicht, dachte Tracy. Ichbleibe hier.

Ihre Zellengenossinnen traten auf den Flur und stellten sich zu den anderen. Eine kleine, gedrungene Aufseherin mit wasserstoffblondem Haar sah Tracy auf der Pritsche liegen.»Was ist denn mit dir los?!«rief sie.»Hast du die Klingel nicht gehort? Komm raus aus der Zelle.«

«Danke, ich habe keinen Hunger«, erwiderte Tracy.»Ich mochte vom Essenbefreit werden.«

Die Augen der Aufseherin weiteten sich in unglaubigem Staunen. Sie sturmte in die Zelle und ging mit ausgreifenden Schritten zu Tracys Pritsche.»Was meinst du eigentlich, wer dubist? Wartest du vielleicht auf den Zimmerservice? Los, hoch mit dir. Ich konnte dich melden, wei?t du das? Wenn das noch mal passiert, kommst du ins Loch. Verstehst du?«

Nein, sie verstand nicht. Nichts von dem, was ihr geschah. Sie erhobsich muhsam von der Pritsche und trat zu den anderen Frauen, stellte sich neben die Schwarze.»Warum…«

«Halt die Klappe!«knurrte Ernestine Littlechap aus dem Mundwinkel.»Im Glied wird nicht gequatscht.«

Die Frauen marschierten durch einen schmalen, trostlosen Flur, passierten eine Sicherheitsschleuse und kamen in eine riesige Kantine mit gro?en, derbgezimmerten Holztischen und Stuhlen. An einer langen Theke mu?ten sie nach ihrem Essen anstehen. Es gabwa?rigen Thunfischauflauf, schlaffe gruneBohnen, eineblasse Eierkrem und, je nach Wahl, dunnen Kaffee oderbilligen Fruchtsaft. Das wenig appetitliche Essen wurde mit Schopfkellen auf dieBlechteller der Gefangenen geklatscht. Die lange Schlange schobsich an der Theke vorbei, und die Insassinnen, die dahinterstanden und den Fra? austeilten, riefen unablassig:»Weiter! Die nachste… Weiter! Die nachste…«

Als Tracy abgefertigt war, blickte sie sich unschlussig um.

Sie wu?te nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie hielt Ausschau nach Ernestine Littlechap, aber die Schwarze war verschwunden. Schlie?lich ging Tracy zu dem Tisch, an dem Paulita sa?, die dicke Mexikanerin. Zwanzig Frauen schlangen hier gierig ihr Essen hinunter. Tracyblickte auf ihren Teller. Die grune Galle kam ihr hoch. Sie schobden Teller von sich.

Paulita streckte die Hand danach aus.»Wenn du's nicht essen willst — ich nehm's gern.«

Lola sagte:»He, du mu?t was essen, sonst machst du's hier nicht lang.«

Ich will es hier auch nicht lang machen, dachte Tracy verzweifelt. Ich will sterben. Wie halten diese Frauen das aus? Wie lange sind sie schon hier? Monate? Jahre? Sie dachte an die stinkende Zelle und an ihre dreckige Matratze, und sie hatte am liebsten geschrieen. Sie pre?te die Lippen aufeinander, um keinen Laut von sich zu geben.

Die Mexikanerin sagte:»Wenn die spitzkriegen, da? du nichts i?t, kommst du ins Loch. «Sie sah Tracys verstandnislosen Gesichtsausdruck.»In 'ne Einzelzelle, wo's dunkel ist. Das wurde dir gar nicht gefallen. «Siebeugte sich vor.»Dubist zum ersten Mal im Knast, wie? Ich gebdir 'n guten Tip, Querida. Ernestine Littlechap hat hier das Sagen. Sei nett zu ihr, dannbist du fein heraus.«

Drei?ig Minuten nachdem die Frauen die Kantinebetreten hatten, schrillte eine Glocke. Die Frauen standen auf. Paulita fischte sich noch schnell eine liegengebliebeneBohne von einem der Teller. Tracy stellte sich neben sie. Die Frauen marschierten in ihre Zellen zuruck. Das Abendessen warbeendet. Es war 16 Uhr — noch funf lange Stunden, bis das Licht ausging.

Als Tracy in die Zelle zuruckkam, war Ernestine Littlechap schon da. Tracy fragte sich, wo sie wahrend des Essens gewesen war. Tracy warf einenBlick auf die Kloschussel in

der Ecke. Sie hatte dringend auf die Toilette gemu?t, aber sie konnte sich nicht dazu uberwinden. Nicht vor diesen Frauen. Sie wurde warten, bis das Licht ausging. Sie setzte sich auf die Kante ihrer Pritsche.

Ernestine Littlechap sagte:»Ich habgehort, da? du nichts gegessen hast. Das ist dochbeknackt.«

Woher wu?te sie das? Und warum kummerte es sie?» Was mu? ich tun, wenn ich den Direktor sprechen will?«

«Da reichst du 'n schriftliches Gesuch ein. Mit dem wischen sich die Warterinnen den Arsch. Die meinen namlich, da? jede Frau, die mit dem Direktor sprechen will, dochblo? Arger macht. «Sie ging zu Tracy, bliebvor ihrer Pritsche stehen.»Du kannst hier jede Menge Schwierigkeiten kriegen. Was dubrauchst, ist 'ne Freundin, die dir hilft, da? du keine Schwierigkeiten kriegst. «Sie lachelte, und ein goldener Schneidezahn kam zum Vorschein. Ihre Stimme klang sanft.»Jemand, der sich auskennt in dem Zoo hier.«

Tracyblickte zu dem lachelnden Gesicht der Schwarzen auf. Es schien irgendwo in der Nahe der Decke zu schweben.

So etwas Gro?es hatte sie noch nie gesehen.

Das ist eine Giraffe, sagte ihr Vater.

Sie waren im Zoo im Audubon?Park. Tracy liebte den Park. Am Sonntag gingen sie hin, um das Sonntagskonzert zu horen, und danach fuhrten ihre Eltern sie ins Aquarium oder in den Zoo. Sie wanderten langsam zwischen den Kafigen dahin undbetrachteten die Tiere.

Finden die das nicht scheu?lich, so eingesperrt zu sein, Papa?

Ihr Vater lachte. Nein, Tracy, sie haben ein schones Leben. Sie werden versorgt, sie werden gefuttert, und ihre Feinde konnen ihnen nichts tun.

Tracy fand, da? die Tiere unglucklich aussahen. Sie hatte gern die Kafige aufgemacht und sie freigelassen. Ich mochte

nie so eingesperrt sein, dachte Tracy.

Um 20 Uhr 45 gellte die Glocke durch das ganze Gefangnis. Tracys Zellengenossinnenbegannen sich auszuziehen. Tracy ruhrte sich nicht.

Lola sagte:»Du hast 'ne Viertelstunde Zeit, dann mu?t du in der Falle sein.«

Die Frauen hatten inzwischen ihre Nachthemden angezogen. Die wasserstoffblonde Aufseherin kam an der Zelle vorbei. Als sie Tracy auf der Pritsche liegen sah, bliebsie stehen.

«Zieh dich aus«, befahl sie. Dann wandte sie sich an Ernestine.»Habt ihr der das nicht gesagt?«

«Doch, haben wir.«

Die Aufseherin wandte sich wieder an Tracy.»Mach ja keinen Stunk«, warnte sie.»Du tust hier, was man dir

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