»Ken - ich glaube, ich sterbe.«

»Hor zu. Steh auf - langsam -, nimm zwei Aspirin und eine kalte Dusche, trink eine Tasse hei?en, schwarzen Kaffee, und du bleibst vielleicht am Leben.«

Als Jennifer eine Stunde spater das Buro erreichte, fuhlte sie sich besser. Nicht gut, dachte sie, aber besser. Als sie eintrat, klingelten beide Telefone. »Das ist fur dich«, sagte Ken grinsend. »Sie klingeln, seit ich hier bin. Du brauchst eine Schalttafel.« Zeitungen, Illustrierte, Fernsehsender und Radiostationen riefen an und wollten Hintergrundstories uber Jennifer bringen. Uber Nacht war sie eine Beruhmtheit geworden. Es gab noch andere Anrufe - die, von denen sie getraumt hatte. Anwaltskanzleien, die sie zuvor kurz abgefertigt hatten, riefen an, um zu fragen, ob es ihr moglich ware, ihnen einen Gesprachstermin einzuraumen...

In seinem Buro brullte Robert Di Silva seinen ersten Assistenten an: »Ich mochte, da? Sie eine vertrauliche Akte uber Jennifer Parker anlegen. Ich mochte uber jeden Mandanten, den sie annimmt, Bescheid wissen. Verstanden?«

»Ja, Sir.«

»Los, an die Arbeit!«

9

»Wenn der kein Killer mehr ist, bin ich eine gottverdammte Jungfrau. Er hat sein ganzes Leben mit der Waffe in der Hand verbracht.«

»Das Arschloch kam angekrochen und wollte, da? ich bei Mike ein Wort fur ihn einlege. Ich hab' gesagt, ›He, paesano, ich bin nur ein Soldat, wei?t du? ‹Wenn Mike noch einen Revolvermann braucht, hat er es nicht notig, in einem Schei?ehaufen danach zu suchen.«

»Er hat versucht, dich reinzulegen, Sal.«

»Na, ich hab' ihm ganz schon eins gehustet. Er hat keine Verbindungen, und wenn du in diesem Geschaft keine Verbindungen hast, bist du ein Dreck.«

Sie unterhielten sich in der Kuche eines dreihundert Jahre alten Farmgebaudes in New Jersey. Sie waren zu dritt: Nick Vito, Joseph Colella und Salvatore »Pusteblume« Fiore. Nick Vito war ein leichenblasser Mann mit beinahe unsichtbaren, dunnen Lippen und toten, tiefgrunen Augen. Er trug wei?e Socken und Zweihundert-Dollar- Schuhe. Joseph »Big Joe« Colella war ein Berg von einem Mann, ein Granitblock, und wenn er ging, sah er aus wie ein wandelnder Wolkenkratzer. Jemand hatte ihn einmal einen menschlichen Gemusegarten genannt. »Colella hat eine Kartoffelnase, Blumenkohlohren und ein Gehirn von der Gro?e einer Erdnu?.« Colella hatte eine sanfte, hohe Stimme und tauschend hofliche Manieren. Er besa? ein eigenes Rennpferd und hatte einen untruglichen Sinn dafur, auf Gewinner zu setzen. Er war Familienvater mit einer Frau und sechs Kindern. Seine Spezialitaten waren Schu?waffen, Saure und Ketten. Joes Frau, Carmelina, war eine strenge Katholikin, und sonntags, wenn er nicht gerade arbeitete, ging Colella regelma?ig mit seiner Familie in die Kirche.

Der dritte Mann, Salvatore Fiore, war fast ein Liliputaner. Er war einen Meter dreiundfunfzig gro? und wog hundertfunfzehn Pfund. Er besa? das unschuldige Gesicht eines Chorknaben und konnte mit dem Revolver genausogut umgehen wie mit dem Messer. Auf Frauen besa? der kleine Mann eine unwiderstehliche Anziehungskraft, und er ruhmte sich einer Ehefrau, eines halben Dutzends Freundinnen und einer wunderschonen Geliebten. Fruher war Fiore ein Jockey gewesen und hatte von Pimlico bis Tijuana auf allen Rennbahnen gearbeitet. Nachdem der Rennleiter des Hollywood Parks Fiore disqualifiziert hatte, weil Fiore ein Pferd gedopt haben sollte, war die Leiche des Rennleiters eine Woche spater als Treibgut im Lake Tahoe gefunden worden.

Die drei Manner waren soldati in Antonio Granellis Familie, aber Michael Moretti hatte sie hineingebracht, und sie gehorten mit Leib und Seele nur ihm.

Im E?zimmer des Farmhauses fand ein Familientreffen statt. Am Kopfende sa? Antonio Granelli, capo der machtigsten Mafia-Familie der Ostkuste. Mit zweiundsiebzig Jahren war er immer noch ein eindrucksvoll aussehender Mann mit den Schultern und der breiten Brust eines Arbeiters und wei?em Haarschopf. In Palermo auf Sizilien geboren, war Antonio Granelli mit funfzehn nach Amerika gekommen und hatte auf den Kais an der West Side von Manhattan gearbeitet. Mit einundzwanzig war er der Stellvertreter des Mannes, der auf den Docks den Ton angab. Die beiden Manner hatten einen Streit, und als der andere auf geheimnisvolle Weise verschwand, ubernahm Granelli die Docks. Jeder, der im Hafen arbeiten wollte, mu?te ihm einen Teil seines Lohns abtreten. Er benutzte das Geld, um seinen Weg zur Macht zu pflastern, und er hatte schnell expandiert, seine Tatigkeit auf andere Branchen erweitert, Geld zu Wucherzinsen verliehen, Lieferungen verschoben und sich schlie?lich der Prostitution, dem Glucksspiel, Drogenhandel und Mord zugewandt. Im Lauf der Jahre war er zweiunddrei?igmal unter Anklage gestellt, aber nur ein einziges Mal verurteilt worden - wegen Korperverletzung. Granelli war ein unbarmherziger, vollig amoralischer Mann mit der erdverbundenen Verschlagenheit eines Bauern. Links von ihm sa? Thomas Colfax, der consigliere der Familie. Vor funfundzwanzig Jahren hatte Colfax eine brillante Zukunft als Firmenanwalt vor sich gehabt, aber nachdem er einmal eine kleine Olivenol-Gesellschaft verteidigt hatte, die, wie sich herausgestellt hatte, von der Mafia kontrolliert wurde, war er Schritt fur Schritt dazu verleitet worden, andere Falle fur die Mafia zu ubernehmen, bis die Granelli-Familie im Lauf der Jahre schlie?lich sein einziger Mandant geworden war. Sie war ein sehr eintraglicher Auftraggeber, und Thomas Colfax war ein wohlhabender Mann geworden. Zu Antonio Granellis Rechten sa? Michael Moretti, sein Schwiegersohn. Michael war sehr ehrgeizig, ein Charakterzug, der Granelli nervos machte. Michael pa?te nicht in die Schablone der Familie. Sein Vater, Giovanni, ein entfernter Cousin von Antonio Granelli, war nicht in Sizilien, sondern in Florenz geboren. Das allein lie? die Familie Moretti schon suspekt wirken - jeder wu?te, da? man Florentinern nicht trauen konnte.

Giovanni Moretti war nach Amerika ausgewandert, hatte ein Schuhgeschaft eroffnet und es ehrlich und anstandig gefuhrt. Es hatte nicht einmal ein Hinterzimmer, in dem gespielt oder Geld verliehen wurde, geschweige denn leichte Madchen zu finden waren. Ein Dummkopf.

Giovannis Sohn Michael war ganz anders. Er hatte Yale und die Wirtschaftsfakultat von Wharton absolviert. Als Michael mit der Ausbildung fertig war, hatte er sich mit einer einzigen Bitte an seinen Vater gewandt: er wollte seinen entfernten Verwandten Antonio Granelli treffen. Der alte Schuhmacher hatte seinen Cousin aufgesucht und das Treffen arrangiert. Granelli war sicher, da? Michael sich Geld leihen wollte, um ein eigenes Geschaft zu eroffnen, vielleicht ein Schuhgeschaft wie sein tumber Vater. Aber das Treffen war au?erst uberraschend verlaufen. »Ich wei?, wie ich Sie reich machen kann«, hatte Michael angefangen.

Antonio Granelli hatte den anma?enden jungen Mann angesehen und nachsichtig gelachelt: »Ich bin reich.« »Nein. Sie glauben nur, Sie seien reich.«

Das Lacheln war erstorben. »Wovon, zum Teufel, sprichst du, Kleiner?«

Und Michael Moretti hatte es ihm erklart.

Am Anfang war Antonio Granelli behutsam vorgegangen, als er Michaels Ratschlage ausprobierte. Aber die Erfolge ubertrafen alle seine Erwartungen. Unter Michaels Aufsicht expandierte die Granelli-Familie, die sich bis dato auf profitable, aber illegale Aktivitaten beschrankt hatte. Innerhalb von funf Jahren hatte die Familie einen zweiten, diesmal legalen Fu? in den Turen von Restaurants, Transportgesellschaften, Apotheken und Waschereien. Michael spurte krankelnde Firmen auf, die einer Finanzspritze bedurften, die Familie stieg in kleinerem Umfang ein und schluckte dann mehr und mehr, bis sie alle Aktiva kontrollierte. Alte Firmen mit einwandfreiem Ru f waren plotzlich bankrott. Mit den Unternehmen, die einen zufriedenstellenden Profit erwirtschafteten, beschaftigte Michael sich ausfuhrlicher und vervielfachte diesen Profit, denn die Arbeiter in diesen Unternehmen wurden von seinen Gewerkschaften kontrolliert, und die Firma wickelte ihre Versicherung uber eine der familieneigenen Agenturen ab, und sie erstanden ihre Wagen von einem der Gebrauchtwagenhandler der Familie. Michael erschuf einen symbiotischen Giganten, eine Reihe von Unternehmen, von denen der Kaufer unablassig gemolken wurde, und diese Milch flo? in die Kanale der Familie.

Trotz seiner Erfolge war sich Michael Moretti daruber klar, da? er ein gewichtiges Problem hatte. Wenn er Antonio Granelli erst einmal den Weg in das uppige Paradies der legalen Wirtschaft gewiesen hatte, wurde Granelli ihn nicht mehr brauchen. Er war teuer, denn er hatte Granelli am Anfang ihrer Zusammenarbeit dazu uberredet, ihn prozentual an den Gewinnen zu beteiligen, die damals noch niemand als sehr gro? eingestuft hatte. Aber nachdem Michaels Ideen begonnen hatten, Fruchte zu tragen, und das Geld hereinstromte, hatte Granelli noch einmal daruber nachgedacht. Durch Zufall hatte Michael erfahren, da? ein Familientreffen abgehalten worden war,

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