und oft Erfolg hatte. Er war intelligent und gewitzt. »Otto arbeitet fur Kreditgesellschaften«, erklarte er Jennifer einmal. »Sie beauftragen ihn damit, nicht abbezahlte Autos, Fernsehapparate oder Waschmaschinen zuruckzuholen. Und Sie?«

»Ich?«

»Haben Sie nicht wenigstens einen Mandanten?«

»Ich habe einiges in petto«, antwortete Jennifer ausweichend.

Er nickte. »Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Jeder kann mal

einen Fehler machen.«

Jennifer fuhlte, wie sie rot wurde. Also wu?te sogar er uber sie Bescheid.

Ken Bailey packte ein gro?es, dickes Roastbeef-Sandwich aus. »Wollen Sie einen Bissen?«

Es sah kostlich aus. »Nein, danke«, lehnte Jennifer fest ab. »Ich esse nie zu Mittag.«

»Wie Sie wollen.«

Sie sah ihm zu, wie er in das saftige Sandwich bi?. Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck und fragte noch einmal: »Sind Sie sicher, da? Sie nicht...«

»Nein, wirklich nicht. Ich habe eine Verabredung.« Ken Bailey blickte Jennifer nach, als sie das Buro verlie?, und sein Gesicht wirkte besorgt. Er war stolz auf seine Menschenkenntnis, aber Jennifer Parker verwirrte ihn. Auf Grund der Fernseh- und Zeitungsberichte war er sicher gewesen, jemand habe sie bezahlt, damit sie die Anklage gegen Michael Moretti zu Fall bringe. Aber jetzt, nachdem er sie kennengelernt hatte, war er davon nicht mehr so uberzeugt. Er war einmal verheiratet gewesen und hatte die Holle auf Erden erlebt. Er hatte wirklich keine allzu hohe Meinung von Frauen. Aber etwas sagte ihm, da? Jennifer etwas Besonderes war. Sie war schon, intelligent und sehr stolz. Jesus, warnte er sich, sei kein Idiot. Ein Mord auf deinem Gewissen ist mehr als genug.

Kommt zu mir, ihr, die ihr hungrig, arm und verzweifelt seid, dachte Jennifer zynisch, mein Gott, die Inschrift auf der Freiheitsstatue war schon eine sentimentale Angelegenheit. In New York kummert sich niemand darum, ob du lebst oder krepierst. Hor auf, dich selber zu bemitleiden!

Aber es war schwer. Ihre Barschaft war auf achtzehn Dollar geschrumpft, die Miete fur das Appartement uberfallig und die fur ihren Buroanteil in zwei Tagen ebenfalls. Sie hatte nicht genug Geld, um noch langer in New York zu bleiben, und auch nicht genug, um der Stadt den Rucken zu kehren. Noch einmal hatte sie anhand der gelben Seiten im Telefonbuch in alphabetischer Reihenfolge alle Anwaltsburos angerufen, um einen Job zu bekommen. Sie tatigte die Gesprache von einer Zelle aus, denn sie wollte nicht, da? Ken Bailey und Otto Wenzel mithorten. Das Ergebnis war immer gleich. Niemand war an ihren Diensten interessiert. Es wurde ihr nichts anderes ubrigbleiben, als nach Kelso zuruckzugehen und als Rechtshilfe oder Sekretarin fur einen der Freunde ihres Vaters zu arbeiten. Wie unglucklich er daruber gewesen ware. Es war eine bittere Niederlage, aber sie hatte keine Wahl. Sie wurde als Versager nach Hause zuruckkehren. Das Problem dabei war nur die Reise. In der Nachmittagsausgabe der New York Post fand sie eine Anzeige, in der ein zahlender Mitfahrer nach Seattle gesucht wurde. Jennifer wahlte die angegebene Nummer, aber niemand hob ab. Sie beschlo?, es am nachsten Morgen noch einmal zu versuchen.

Am folgenden Tag ging Jennifer zum letztenmal ins Buro. Otto Wenzel war nicht da, aber Ken Bailey hing wie ublich am Telefon. Er trug Blue jeans und einen Kaschmir-Pullover mit V-Ausschnitt.

»Ich habe Ihre Frau gefunden«, sagte er gerade. »Das einzige Problem ist, da? sie nicht wieder nach Hause will, alter Junge. Ich wei?... wer versteht schon die Frauen? Okay... ich sage Ihnen, wo sie sich aufhalt, und dann konnen Sie ja Ihren Charme spielen lassen, um sie zuruckzuholen.« Er gab eine Hoteladresse durch. »Nichts zu danken.« Er hangte auf und drehte sich zu Jennifer um. »Sie sind heute spat dran.«

»Mr. Bailey, ich - ich furchte, ich mu? abreisen. Ich uberweise Ihnen das Geld fur die Miete, sobald ich kann.« Ken Bailey lehnte sich in seinem Stuhl zuruck und sah sie nachdenklich an. Sein Blick verunsicherte Jennifer.

»Geht das in Ordnung?« fragte sie.

»Zuruck nach Washington?« wollte er wissen.

Sie nickte.

Ken Bailey fragte: »Konnten Sie mir einen kleinen Gefallen tun, ehe Sie abreisen? Ein Freund von mir, ein Rechtsanwalt, bekniet mich die ganze Zeit, damit ich einige Vorladungen fur ihn zustelle, aber ich habe keine Zeit. Er zahlt zwolf Dollar funfzig fur jede Vorladung, plus Kilometergeld. Wurden Sie das fur mich tun?«

Eine Stunde spater stand Jennifer in den feudalen Buroraumen von Peabody & Peabody. Es war genau die Art von Kanzlei, in der sie sich immer arbeiten gesehen hatte, als vollwertiger Partner mit einer luxuriosen Ecksuite. Sie wurde in ein kleines Hinterzimmer gefuhrt, wo eine geplagte Sekretarin ihr einen Stapel Vorladungen aushandigte. »Hier. Achten Sie darauf, Ihre Kilometerzahl zu notieren. Sie haben doch einen Wagen, oder?«

»Nein, ich furchte, ich...«

»Gut, wenn Sie die U-Bahn nehmen, heben Sie die Tickets auf.«

»Gut.«

Den Rest des Tages verbrachte Jennifer damit, Vorladungen zuzustellen - in der Bronx, Brooklyn und Queens, bei stromendem Regen. Um acht Uhr abends hatte sie funfzig Dollar verdient. Durchfroren und erschopft kehrte sie in ihr Appartement zuruck. Aber immerhin hatte sie Geld verdient, das erste, seit sie in New York eingetroffen war. Und die Sekretarin hatte ihr erklart, da? noch ein ganzer Haufen Vorladungen zugestellt werden musse. Es war harte Arbeit, so durch die ganze Stadt zu rennen, und es war demutigend. Man hatte Jennifer Turen vor der Nase zugeschlagen, sie verflucht, bedroht und zweimal belastigt. Die Aussicht auf einen weiteren solchen Tag war erschreckend; dennoch, solange sie in New York bleiben konnte, bestand Hoffnung, egal, wie entfernt die auch sein mochte.

Jennifer lie? sich ein hei?es Bad ein und stieg in das Wasser. Langsam lie? sie sich auf den Boden der Wanne gleiten und geno? den Luxus des uber ihrem Korper zusammenschwappenden Wassers. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie erschopft sie war. Jeder Muskel schien zu schmerzen. Sie beschlo?, da? sie au?erdem noch ein gutes Abendessen brauchte, um sich aufzuheitern. Sie wurde schlemmen. Ich verschreibe mir ein richtiges Restaurant, dachte sie, ein Lokal mit Tischtuchern und Gedecken. Vielleicht gibt es dort leise Musik, und ich werde ein Glas Wei?wein trinken und...

Ihre Gedanken wurden von der Klingel an der Tur unterbrochen. Es war ein ungewohntes Gerausch. Seit sie hier vor zwei Monaten eingezogen war, hatte sie nicht einen einzigen Besucher gehabt. Es konnte sich nur um die murrische Wirtin handeln, die die uberfallige Miete kassieren wollte. Zu mude, sich zu bewegen, ruhrte Jennifer sich nicht, in der Hoffnung, die Vermieterin wurde wieder verschwinden. Das Klingelzeichen wiederholte sich. Widerstrebend stieg Jennifer aus dem warmen Bad. Sie streifte ein samtenes Hauskleid uber und ging zur Tur. »Wer ist da?« Auf der anderen Seite der Tur fragte eine mannliche Stimme: »Mi? Jennifer Parker?« »Ja.«

»Mein Name ist Adam Warner. Ich bin Anwalt.« Verwirrt legte Jennifer die Sicherheitskette vor und offnete die Tur einen Spaltbreit. Der Mann vor der Tur war in den Drei?igern, gro?, blond und breitschultrig. Er hatte graublaue, neugierige Augen und trug eine horngerahmte Brille. Sein ma?geschneiderter Anzug mu?te ein Vermogen gekostet haben.

»Darf ich eintreten?« fragte er.

Einbrecher pflegten keine ma?geschneiderten Anzuge, Gucci-Schuhe und Seidenschlipse zu tragen. Sie hatten im allgemeinen auch keine langen, sensiblen Hande mit manikurten Fingernageln.

»Einen Moment, bitte.« Jennifer hakte die Sicherheitskette aus und offnete die Tur. Wahrend Adam Warner eintrat, blickte Jennifer sich rasch in ihrem Appartement um. Sie versuchte, es mit seinen Augen zu sehen, und zuckte zusammen. Er sah aus, als sei er Besseres gewohnt. »Womit kann ich Ihnen helfen, Mr. Warner?« Mit einem Schlag wu?te Jennifer, warum er da war. Aufregung durchfuhr sie. Es handelte sich um eine der Stellen, um die sie sich beworben hatte. Sie wunschte sich, ein schones, dunkelblaues Modellkleid anzuhaben, gut frisiert zu sein und...

Adam Warner sagte: »Ich gehore dem Disziplinarausschu? der New Yorker Anwaltschaft an, Mi? Parker. Staatsanwalt Robert Di Silva und Richter Lawrence Waldman haben die Beschwerdeabteilung aufgefordert, Ihren Ausschlu? aus der Anwaltskammer in die Wege zu leiten.«

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