Zwischen vier und funf Uhr nachmittags, als der Larm sich verdoppelte, steckte sie einmal den Kopf zum Fenster hinaus und erkannte unter der erregten Menschenmenge… wen?… Hodge Urrican. Ihn begleitete ein Mann von etwa vierzig Jahren, anscheinend ein kraftiger, untersetzter Seemann, der sehr heftig gesticulierte. Man hatte ihn fur noch aufbrausender und grimmiger als den schrecklichen Commodore selbst halten konnen.
Theilnahme fur seine jugendliche Partnerin konnte es schwerlich sein, die ihn heute hierher gelockt hatte, als er vor dem Hause in der Sheridan Street auf und ab stampfte und dessen Fenster mit den Blicken verschlang. Jovita Foley bemerkte auch noch ganz deutlich, da? der ihn begleitende, noch unruhigere Mann die Hande ballte, als ob er sich gar nicht mehr zu beherrschen wu?te.
Unter den Nahestehenden verlautete da, da? die Krankheit Lissy Wag’s nur auf ein unbedeutendes Unwohlsein hinauslaufe.
»Welcher Schwachkopf hat das behauptet?« fuhr er wuthend auf.
Der betreffende »Schwachkopf« unterlie? es, aus Furcht, es konne ihm ubel mitgespielt werden, sich zu erkennen zu geben.
»Schlecht… schlecht geht es mit ihr! erklarte der Commodore Urrican.
– Und wird noch immer schlechter! setzte sein Begleiter hinzu. Wer nur das Gegentheil zu behaupten wagt…
– So fasse Dich doch, Turk!
– Ich… mich fassen? entgegnete Turk, dessen Augen in Tigerwuth aufflammten. Das mag leicht sein fur Sie, Commodore, fur den geduldigsten Menschen auf Gottes Erdboden! Mich aber, wenn ich solch dummes Zeug hore, mich bringt’s au?er Rand und Band, und wenn ich mich einmal nicht mehr halten kann…
– Nun ja, doch nun genug!« befahl Hodge Urrican, der seinen Begleiter am Arme schuttelte, als wolle er ihn ausrei?en.
Wenn man solche Reden horte, mu?te man fast glauben – fruher hatte es niemand fur moglich gehalten – da? hienieden noch ein Mensch existierte, neben dem der Commodore Hodge Urrican der reine Engel der Sanftmuth ware.
Beide waren ubrigens nur hierher gekommen in der Hoffnung, schlechte Nachrichten zu erhalten und sich zu vergewissern, da? das Match Hypperbone nur zwischen sechs Partnern ausgespielt werde.
Das sagte sich auch Jovita Foley, die gro?e Muhe hatte, nicht auf die Stra?e hinunter zu sturzen. Sie verspurte das gro?te Verlangen, die beiden Manner zu behandeln, wie sie es verdienten, selbst auf die Gefahr hin, von dem Tiger in Menschengestalt zerfleischt zu werden.
Infolge dieser Verhaltnisse waren die Mittheilungen der bedeutendsten Blatter, die um sechs Uhr abends erschienen, voll der seltsamsten Widerspruche.
Nach den einen hatte sich das Unwohlsein Lissy Wag’s schon nach den ersten arztlichen Verordnungen gehoben, und die Abfahrt des jungen Madchens wurde sich nicht um einen Tag verzogern.
Nach anderen zeigte die Krankheit wenigstens keinen ernsten Charakter; nur verlangte sie eine gewisse Zeit der Ruhe, und Mi? Wag werde vor Ende der Woche nicht abreisen konnen.
Gerade die dem jungen Madchen sonst gunstig gestimmten Zeitungen, der »Chicago Globe« und der »Chicago Evening«, schienen am besorgtesten zu sein. Sie sprachen von einer Consultation der »Leuchten der Wissenschaft«, von einer vorzunehmenden Operation… Mi? Wag habe den Arm gebrochen – sagte die eine – ein Bein gebrochen – berichtete die andere. Endlich war sogar ein anonymer Brief an den Notar Tornbrock, den Testamentsvollstrecker des Heimgegangenen, geschrieben worden, der ihm meldete, da? die funfte Partnerin auf den ihr moglicherweise zufallenden Theil der Erbschaft verzichte.
Die »Chicago Mail«, deren Redacteure die Sympathien und Antipathien des Commodore Urrican theilten, verstiegen sich selbst bis zu der Erklarung, da? Lissy Wag zwischen vier Uhr funfundvierzig und vier Uhr siebenundvierzig Minuten des Nachmittags den letzten Seufzer ausgehaucht habe.
Als Jovita Foley von diesen Mittheilungen Kenntni? erhielt, ware sie bald selbst noch krank geworden. Der Doctor Pughe, der am Abend wiederkam, wu?te sie aber in dieser Hinsicht zu beruhigen.
Auch bezuglich der Mi? Lissy Wag wiederholte er, da? es sich nur um eine einfache Bronchitis handle. Es habe sich bisher kein Symptom der bosen Pneumonie oder der gefurchteten Lungencongestion gezeigt… wenigstens bis zur Stunde nicht… und es wurden einige Tage der Ruhe genugen…
»Wieviel denn?
– Vielleicht sieben bis acht Tage.
– Sieben bis acht!
– Und unter der Bedingung, da? sie sich keinem Luftzuge aussetzt.
– Sieben bis acht Tage! wiederholte die ungluckliche Jovita Foley, vor Verzweiflung die Hande ringend.
– Und das auch nur, wenn keine ernsten Complicationen eintreten!«
Die Nacht verlief nicht besonders gut. Das Fieber meldete sich wieder; der Anfall hielt bis zum Morgen an und loste sich in einem reichlichen Schwei? auf. Jedenfalls schien das Luftrohrenleiden aber etwas gemildert und der Auswurf ging ohne gro?ere Anstrengung von statten.
Jovita Foley legte sich gar nicht nieder; sie verbrachte die endlos langen Stunden am Schmerzenslager ihrer armen Freundin. Keine Krankenwarterin hatte so viel Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Eifer entwickeln konnen. Uebrigens hatte sie ihren Platz auch keiner Fremden abgetreten.
Am nachsten Tage schlief Lissy Wag, die sich am fruhen Morgen eine Zeitlang ziemlich beklemmt gefuhlt hatte, bald wieder ein.
Es war nun der 9. Mai und im Saale des Auditoriums sollten zur Fortsetzung des Match Hypperbone zum funftenmale die Wurfel fallen.
Jovita Foley hatte zehn Jahre ihres Lebens darum gegeben, dabei gegenwartig sein zu konnen. Doch, die Kranke verlassen?… Nein, daran war nicht zu denken. Da erwachte aber Lissy Wag schon wieder und redete ihre Freundin an.
»Meine gute Jovita, sagte sie, bitte unsere Nachbarin, da? sie kurze Zeit bei mir bleibt…
– Du willst, da?…
– Ich will, Du sollst nach dem Auditorium gehen. Es soll doch um acht Uhr geschehen, nicht wahr?
– Ja, punktlich um acht.
– Nun sieh, zwanzig Minuten darauf kannst Du ja schon wieder zuruck sein. Ich sahe Dich so gern dort, und da Du glaubst, da? ich Aussichten haben konnte…«
Ob ich das glaube! hatte Jovita Foley drei Tage vorher gewi? gerufen. Heute antwortete sie uberhaupt nicht. Sie druckte einen Ku? auf die Stirn der Kranken und holte die Nachbarin, eine wurdige Dame, die sofort auf dem Sessel am Bette Platz nahm. Dann eilte sie hinunter, warf sich in einen Wagen und lie? sich nach dem Auditorium fahren.
Um sieben Uhr vierzig Minuten stand Jovita Foley an der Thur des schon uberfullten Saales. Gleich beim Eintreten erkannt, wurde sie mit hundert Fragen besturmt.
»Wie steht es mit Lissy Wag?
– Ganz ausgezeichnet,« erklarte sie mit der Bitte, ihr Platz zu machen, damit sie nach der Buhne gelangen konne. Das geschah denn auch.
Da das Ableben des jungen Madchens durch die Morgenblatter ausdrucklich bestatigt worden war, wunderten sich einige Anwesende nicht wenig, deren Busenfreundin hier, und nicht einmal in Trauerkleidung, erscheinen zu sehen.
Zehn Minuten vor acht Uhr betraten der Vorsitzende und die Mitglieder des Excentric Club, in ihrer Mitte Meister Tornbrock, die Buhne und nahmen vor dem Tische daselbst Platz.
Vor den Augen des Notars war die Landkarte ausgebreitet. Die Wurfel lagen neben dem ledernen Becher. Noch funf Minuten, und an der Uhr des Saales mu?te es acht schlagen.
Da unterbrach eine drohnende Stimme die nur langsam eintretende Ruhe.
An dem brummenden Basse erkannte man die Stimme als die des Commodore.
Hodge Urrican verlangte das Wort zu einer kurzen Bemerkung. Es wurde ihm zugestanden.
»Mir scheint es, Herr Prasident, sagte er, jedes weitere Wort immer scharfer und lauter aussprechend, mir scheint es, man durfe, um dem Willen des Verstorbenen genau nachzukommen, heute als zum funftenmale nicht wurfeln, da die funfte Partnerin gar nicht im Stande ist…
– Jawohl… ganz richtig!« heulten mehrere aus der Gruppe, wo Hodge Urrican sich aufhielt, und mit noch durchdringenderer Stimme als die andern der aufbrausende Mann, der den Commodore gestern unter Jovita