Labyrinth im Hintertrakt des Palasts, wo die koniglichen Appartements unmerklich in die Kanzleien des Sicherheitsministeriums ubergingen. Hier konnte man sich leicht verirren. Alle erinnerten sich an einen Fall, als die Patrouille der Garde auf einem Kontrollgang von dem langgedehnten Heulen eines Menschen erschreckt wurde, der ihnen durch das Gitter einer Schie?scharte seine zerkratzten Hande entgegenstreckte. »Rettet mich!« schrie der Mann. »Ich bin ein Kammerjunker! Ich wei? nicht, wie ich hier herauskomme! Ich habe schon zwei Tage nichts mehr gegessen! Holen Sie mich heraus!« (Zehn Tage lang fand zwischen dem Ministerium fur Finanzen und dem Hofministerium ein angeregter Briefwechsel statt, wonach man dann doch beschlo?, das Gitter herauszurei?en. In den zehn Tagen aber futterten sie den armen Kammerjunker mit Brot und Fleisch, das sie ihm auf Lanzenspitzen zusteckten.) Au?erdem lauerten hier noch verschiedene andere Gefahren. In den engen Gangen gerieten betrunkene Gardisten, die die Person des Konigs bewachten, mit betrunkenen Sturmowiki aneinander, die das Ministerium bewachten. Sie lieferten sich erbitterte Kampfe. Nachdem sie sich aber genug geschlagen hatten, trennten sie sich wieder und trugen ihre Verwundeten fort. Und schlie?lich wanderten hier auch die Geister der Ermordeten, von denen sich im Laufe zweier Jahrhunderte eine stattliche Menge im Palast angesammelt hatte.
Aus einer tiefen Nische in der Wand trat ein wachhabender Sturmowik mit erhobenem Beil hervor. »Kein Zutritt«, sagte er duster.
»Was verstehst du schon, Dummkopf!« sagte Rumata nachlassig und schob ihn mit der Hand zur Seite.
Er horte, wie der Sturmowik hinter ihm unentschlossen mit den Fu?en scharrte, und ertappte sich bei dem Gedanken, da? der beleidigende Tonfall und die nachlassigen Gesten bei ihm nun schon reflektorisch auftraten, da? er bereits den hochwohlgeborenen Flegel nicht mehr spielte, sondern da? er selber fast schon zu einem solchen Flegel geworden war. Er stellte sich dieses sein Verhalten auf der Erde vor und wurde sogleich von Scham und Ubelkeit befallen. – Warum denn? Was ist denn mit mir vorgefallen? Wohin verschwand denn die seit fruhester Kindheit eingepflanzte Achtung und das Vertrauen zu meinesgleichen, zu den Menschen, zu dem wunderbaren Wesen, das man »Mensch« nennt? Aber bei mir kommt ohnehin schon jede Hilfe zu spat, uberkam es ihn mit Schrecken. Ich hasse sie doch wirklich und verachte sie … Kein Mitleid – nein, ich hasse und verachte sie. Wenn ich mir auch die Stumpfheit und Bestialitat dieses Kerls da vor Augen fuhre, die sozialen Umstande und seine schauerliche Erziehung … Ich kann tun, was ich will, aber ich sehe jetzt ganz genau, das dies mein Feind ist, ein Feind all dessen, was mir teuer ist, der Feind meiner Freunde, ein Feind all dessen, was mir personlich heilig ist. Und ich hasse ihn nicht nur theoretisch, nicht als einen »typischen Vertreter«, sondern ihn selbst, seine Person. Ich hasse seine speichelverschmierte Schnauze, den Geruch seines ungewaschenen Korpers, seinen blinden Glauben, seine Bosheit gegen alles, was uber sexuelle Bedurfnisse und den Suff hinausgeht. Da scharrt er nun mit den Fu?en, dieser Halbwuchsige, den vor einem halben Jahr noch sein dickwanstiger Vater verprugelte, um ihn mit solchen Methoden fur den Handel mit wurmigem Mehl und schimmliger Marmelade auszubilden; da achzt und stohnt er, der vernagelte Dummkopf, und qualt sich ab bei dem Versuch, sich an die Paragraphen der eingepaukten Ordnungen zu erinnern, und kann sich nicht entscheiden, ob er nun den edlen Don mit der Hacke erledigen, »Wache!« schreien oder blo? mit der Hand winken soll. So oder so wird keine Seele von etwas erfahren. Alles auf der Welt tut er mit einer Handbewegung ab, kehrt zuruck in seine Nische, steckt sich ein Stuck Kaurinde ins Maul, schmatzt und kaut wie eine satte Kuh und la?t den Speichel rinnen. Und nichts auf der Welt kann ihn interessieren, und an nichts auf der Welt will er denken. Denken, Gott behute! Aber um wieviel besser ist denn unser Lichter Adler, Don Reba? Ja, naturlich, seine Psyche ist verwickelter, und seine Reflexe sind komplizierter, aber seine Gedanken sind diesem nach Ammoniak stinkenden Kerl und den labyrinthischen Verbrechen des Palasts sehr ahnlich, und er ist unaussprechlich niedertrachtig – ein abscheulicher Verbrecher, eine gewissenlose Spinne. Ich bin hierhergekommen, um die Menschen zu lieben, ihnen bei ihrer Selbstentfaltung behilflich zu sein, damit sie den Himmel sehen. Nein, ich bin ein schlechter Kundschafter, dachte er betrubt. Ich bin ein untauglicher Historiker. Und wann bin ich denn in diesen Abgrund gefallen, von dem Don Kondor sprach? Hat denn ein Gott ein Recht auf irgendwelche Gefuhle au?er auf Mitleid?
In seinem Rucken ertonte ein eiliges Klopfen von Stiefeln im Gang. Rumata drehte sich um und fa?te seine beiden Schwerter mit den Handen kreuzweise am Griff. Don Ripat kam zu ihm geeilt, eine entblo?te Klinge in der Hand.
»Don Rumata, Don Rumata!« schrie er schon von weitem in heiserem Flusterton.
Rumata lie? die Schwerter wieder los. Als er schon ganz nahe bei ihm war, blickte Don Ripat um sich und flusterte ihm kaum horbar ins Ohr:
»Ich suche Sie schon eine ganze Stunde. Waga Koleso ist im Palast! Er spricht mit Don Reba im lila Zimmer.« Rumata kniff eine Sekunde lang die Augen zusammen. Dann trat er vorsichtig einen Schritt zur Seite und sagte mit hoflicher Verwunderung:
»Sie meinen doch nicht etwa den beruhmten Rauberhauptmann? Der ist doch entweder langst hingerichtet oder existiert uberhaupt nur in der Phantasie des Volks.« Der Leutnant leckte seine trockenen Lippen.
»Es gibt ihn … Er ist im Palast … Ich dachte, es wird Sie interessieren.«
»Mein bester Don Ripat«, sagte Rumata eindringlich. »Mich interessieren Geruchte. Der Klatsch. Anekdoten … Das Leben ist so langweilig … Sie haben mich anscheinend nicht richtig verstanden …«
Der Leutnant blickte ihn mit verstandnislosen Augen an. »Urteilen Sie doch selbst – was habe ich denn zu tun mit den unsauberen Beziehungen Don Rebas, den ich ubrigens viel zu sehr schatze, als da? ich ihn verurteilen konnte? – Und dann, verzeihen Sie, ich bin in
