Falls ihm nicht etwas dazwischenkam!

Was war es nur, das den Appaloosa derart in Aufregung versetzte?

»Schade, da? du meine Sprache so wenig beherrschst wie ich deine, Grauer«, flusterte Jacob. »Dann konntest du mir helfen und ich dir vielleicht auch.«

Obwohl er sehr leise gesprochen hatte, schien ihn das Pferd zu horen. Er hatte es in zwanzig Yards Entfernung mit einer langen Leine an einen Baumstamm gebunden, so da? es genug Freiheit zum Grasen hatte. Jetzt spitzte es die Ohren, horte mit seinen Nervositatsau?erungen auf und drehte den Kopf zu Jacob.

Jacob blickte noch einmal in die Runde, ohne etwas Verdachtiges zu entdecken.

Er steckte das Messer wieder ins Futteral und sagte, jetzt etwas lauter: »Vielleicht hast du einfach nur schlecht getraumt, Grauer, he? So wie ich.«

Er ging zu dem Pferd hinuber und strich beruhigend uber seine Nustern, wahrend er an die wirren Traume der vergangenen Nacht dachte.

So wirr, da? er nicht mehr im einzelnen zu sagen vermochte, was er getraumt hatte. Aber immer hatten sich seine Traume um Irene und Jamie gedreht.

Kurz vor dem Aufwachen hatte er getraumt, da? Jamie vollig verangstigt brullte und Irene nach Jacob um Hilfe rief. Aber er konnte sich nicht mehr an den Grund erinnern. Nur noch an die Todesangst auf den Gesichtern von Mutter und Kind.

Der Appaloosa beruhigte sich. Wahrscheinlich hatte das Tier tatsachlich einen Alptraum gehabt.

Zwar wu?te Jacob nicht, ob Tiere so traumten wie Menschen oder ob sie uberhaupt traumten. Aber er nahm es an. Schlie?lich waren sie Lebewesen. Und nach seiner Erfahrung hatte der Schopfer die meisten Wesen so ahnlich wie moglich geschaffen.

Was sie nicht daran hinderte, einander immer wieder bis aufs Blut zu bekriegen, dachte er bitter.

Die Fehde zwischen den Leuten aus Greenbush und den Nez Perce war ebenso ein Beweis dafur wie der gro?e Krieg zwischen Nord- und Sudstaaten, der Amerika erschutterte und dessen gefahrliche Auswirkungen die deutschen Auswanderer auch schon zu spuren bekommen hatten.

Wenigstens davon war hier in Oregon nichts zu spuren, wofur er dankbar war.

Jacob suchte Holz zusammen, das es hier reichlich gab, und zundete ein Feuer an. Er hatte zwar keinen Kaffee, und Riding Bears Trockennahrung brauchte er nicht zu erwarmen, aber die Kalte der Nacht steckte noch in seinen Knochen. Die Flammen halfen, sie zu vertreiben, wahrend er lustlos auf den trockenen Ballen herumkaute.

Es wurde jetzt rasch heller, und er beeilte sich mit dem Fruhstuck. Er wollte den jungen Tag ausnutzen und moglichst schnell aufbrechen.

Die Sorge um Irene und Jamie trieb ihn an. Auch wenn er es sich immer wieder einredete, er glaubte doch nicht daran, da? seine Alptraume Zufalle gewesen waren.

Fast meinte er ein unsichtbares Band zu spuren, das zwischen ihm auf der einen Seite und Irene mit ihrem Kind auf der anderen Seite bestand. Das ihn eine Gefahr spuren lie?, die meilenweit entfernt die geliebten Menschen bedrohte.

Er loschte das Feuer, indem er Erdreich auf die Flammen streute. Mit geubten Griffen packte er seine wenigen Sachen zusammen und band sie auf den Appaloosa.

Kaum hatte er das Tier losgemacht und sich auf den Rucken geschwungen, da wieherte es in nie vernommener Lautstarke und stieg mit den Vorderhufen hoch in die Luft.

Der Reiter verlor den Halt und purzelte zu Boden. Jacob fiel ausgerechnet auf die ladierte rechte Schulter, was die Sache besonders schmerzhaft machte.

Benommen richtete er sich auf und hielt mit der Linken die schmerzende Schulter. Er wandte sich dem Appaloosa zu und bellte wutend: »Was soll das, du Ungeheuer? Wir haben uns doch bisher so gut vertragen. Warum willst du mich jetzt unbedingt umbringen?«

Er wollte nach den Zugeln greifen. Aber der graue Hengst wich zuruck, schien Angst vor Jacob zu haben. Nein, nicht vor Jacob. Entgeistert sah er den wirklichen Grund fur das seltsame Verhalten des Indianerpferds.

Ausloser der Panik, die den Appaloosa befallen hatte, waren die Wesen, die mit vor Blutgier leuchtenden Augen und mit gefletschten Zahnen aus dem Unterholz hervorbrachen.

Mit der Schnelligkeit geubter Jager kreisten sie den Menschen und das Pferd ein und machten sich bereit, die Beute anzufallen.

*

Es war zuviel fur Irene. Die Aufregungen der vergangenen Tage.

Die permanente Angst.

Die Trauer um Jacob.

Und jetzt das Entsetzliche, das Fred Myers und Frazer Bradden mit Jamie anstellten!

Die von Todesangst befallene Mutter wollte ihrem Sohn helfen, ihn vor Braddens Mordgier und seinem Bowiemesser retten. Aber sie sah keinen Weg.

Wahrend sie noch verzweifelt uberlegte, gaben ihre Beine nach, als hatte jemand der leidgepruften Frau einen Schlag in die Kniekehlen versetzt. Sie knickte zusammen und sank auf den Boden.

»Nicht.«, flehte sie mit schwacher Stimme. »Bitte. nicht meinen Sohn!« Wie gebannt hingen ihre Augen an dem schreienden Kind und an dem Messer. Eine Handbewegung genugte, um Jamies Leben auszuloschen.

Irene verstand das alles nicht. Was trieb die beiden Manner zu dieser schrecklichen Tat? Der noch nicht ein Jahr alte Jamie hatte ihnen doch wirklich nichts getan! War es pure Mordlust?

Nein, da mu?te noch etwas anderes sein. Wie hatte Frazer Bradden eben doch gesagt: »Wir brauchen den Kleinen, um dir zu zeigen, da? wir keinen Spa? verstehen.«

Aber sie kam nicht darauf, was er gemeint hatte, was er von ihr und Jamie wollte.

»Bitte!« flehte sie und sah zu dem Wagen der Owens hinuber.

Sie hoffte, da? Ebenezer Owen ihr noch einmal beistand, wie schon vor drei Tagen. Aber sie konnte den massigen Mann nicht entdecken. Vielleicht lag der Verwundete noch schlafend bei seiner fiebrigen Frau unter der Plane des Wagens.

Aber jetzt sah sie die anderen Manner und Frauen des Trecks, die sich um die kleine Gruppe bei dem Planwagen scharten, mit dem Jacob und Irene ursprunglich zur Pazifikkuste fahren wollten.

Der Treck-Captain John Bradden und sein Sohn Lewis. Die letzten Uberlebenden von Fred Myers' Kindern, die beiden Sohne Sam und Pete. Und die beiden Frauen, John Braddens Frau Eliza und Fred Myers' Frau Anne.

Doch niemand traf Anstalten, Irene und Jamie beizustehen.

Nicht der Treck-Captain, dessen Wort hier Gesetz war. Und auch nicht die Frauen, die am ehesten fuhlen mu?ten, was in Irene vorging. Sie waren doch auch Mutter! Vergebens suchte Irene in den Augen der beiden nach Mitleid oder wenigstens einem Anflug von Mitgefuhl.

Einmal mehr dachte die junge Deutsche, da? der schreckliche Winter alle Menschen in Greenbush um den Verstand gebracht haben mu?te. Sie waren fast keine Menschen mehr, jedenfalls nicht ihrem Verhalten nach.

Und mit jedem Tag wurden sie schlimmer.

Tranen fullten Irenes Augen, als das Schreckliche in ihr immer mehr zu Gewi?heit heranreifte.

Ja, es sah tatsachlich so aus, als hatten die Manner und Frauen sich hier versammelt, um der Hinrichtung des kleinen Kindes beizuwohnen!

*

Ein halbes Dutzend Feinde umkreiste Jacob und den Appaloosa, wenn der deutsche Auswanderer sich nicht verzahlt hatte.

Denn sie waren flink und blieben immer in Bewegung. Sie zogen ihre Kreise um das abgebrochene Lager, und jeder Kreis war kleiner als der vorhergehende.

Als wollten sie prufen, wie weit sie gehen konnten.

Oder ob sie uberhaupt mit Gegenwehr rechnen mu?ten.

»Entschuldigung, Grauer«, murmelte Jacob, als er sein Messer zog. »Ich war dumm. Ich hatte dir mehr vertrauen sollen.«

Die Erkenntnis kam zu spat. Der Mann und das Pferd sa?en in der Falle. Beide drehten sich im Kreis, um die Bewegungen der Feinde zu verfolgen und sich nicht von einem plotzlichen Angriff uberraschen zu lassen.

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