gibt mir Kraft.«
»Ja, die gibt er uns allen«, meinte die Frau des Missionars mit einem gluckseligen Blick zu der wurmstichigen Holzdecke hinauf. »Auf ihn konnen wir vertrauen.«
Sie verlie? das Gastehaus, ohne die Tranen in Irenes Augen zu bemerken.
Als die Sonne hoher stieg und es im Haus stickig zu werden begann, ging Eliza Bradden mit Jamie nach drau?en und setzte sich auf eine grobe Holzbank unter dem Vordach des Gastehauses.
Irene folgte ihr und setzte sich einfach daneben. So konnte sie wenigstens in der Nahe ihres Kindes sein.
Schweigend sa?en die beiden Frauen nebeneinander. Mrs. Bradden versuchte, Jamie zu bemuttern. Aber der lie? das nur widerwillig geschehen und sah unverwandt zu seiner richtigen Mutter heruber. In seinen winzigen Augen standen Verwirrung und Furcht geschrieben.
Auch die Mittagssuppe nahmen Irene und Mrs. Bradden im Gastehaus ein. Dann setzten sie sich wieder unter das Vordach und beobachteten das geschaftige Treiben.
Die meisten Indianer arbeiteten drau?en auf den Feldern. Einige waren in der Schmiede beschaftigt und halfen den Mannern aus Greenbush, Hufe und Wagenrader neu zu beschlagen. Auch die Achsen und die Diagonalstreben der Planwagen wurden uberpruft und notigenfalls durch neue Eisen ersetzt, damit die Prarieschoner den Weg zum Pazifik ohne Bruch uberstanden.
Am Nachmittag kam ein Mann vom Missionshaus heruber, dessen rechter Arm in einer gro?en Schlinge lag. Es war Ebenezer Owen. Er machte ein zufriedenes Gesicht.
»Wie geht es Ihnen und Ihrer Frau, Mr. Owen?« fragte Irene.
Sie war froh, den bartigen Mann zu sehen. Er war von den Mannern aus Greenbush derjenige, dem sie noch am meisten vertraute. Sie wurde ihm nicht vergessen, da? er sein Leben fur sie eingesetzt hatte, als Frazer Bradden sie bedrohte.
»Danke, besser«, lachelte der massige, breitschultrige Mann und blieb unter dem Vordach stehen. »Wie Sie sehen, Mi? Sommer, laufe ich schon wieder herum.«
»Und Carol?«
»Sie mu? noch eine ganze Weile liegen. Aber Dr. Mercer hat auch ihr geholfen. Er hat das Wundfieber eingedammt.« Owen stie? einen Seufzer der Erleichterung aus. »Und er hat sogar ihren Arm gerettet!«
»Er mu? wirklich ein guter Arzt sein«, sagte die junge Deutsche.
»O ja, das ist er!« bestatigte Owen.
»Ja, er hatte uns allen helfen konnen, wenn er rechtzeitig nach Greenbush gekommen ware«, bemerkte Eliza Bradden bitter. »Aber er hat es ja vorgezogen, zuerst diesen roten Heiden beizustehen!«
Owen blickte sie zweifelnd an und meinte: »Vielleicht sollten wir uns bemuhen, Dr. Mercer zu verstehen, Eliza!« »Ihn verstehen?« rief sie so laut, da? Jamie zu schreien begann. »Da gibt es nichts zu verstehen! Wie kann man Rothaute den Menschen der eigenen Hautfarbe vorziehen? Geh doch zuruck nach Greenbush und sieh dir die vielen Graber an, Ebenezer. Und dann sag mir, ob du das verstehen kannst!«
Vergeblich suchte der Mann nach einer passenden Antwort.
Ein kleiner, von vier Maultieren gezogener Planwagen, der von den Bergen kam und auf die Siedlung zurollte, befreite ihn von weiterem Grubeln.
Irene kam der Wagen gleich bekannt vor. Sie kniff die Augen zusammen und spahte zu ihm hinuber, bis sie die beiden Menschen auf dem Bock zu erkennen glaubte.
Ein junger Mann und eine junge Frau. Gesichter, die ihr fast so vertraut waren wie ihr eigenes.
Doch sie konnte es einfach nicht glauben!
Der Mann war gro? und sehr kraftig, schon stammig. Unter dem breitkrempigen Hut lugten rotblonde Haare hervor, und das offene runde Gesicht war auf fast lustige Weise mit Sommersprossen gesprenkelt.
Die Frau sah ihm ein wenig ahnlich. Sie war recht uppig. Das lange Haar, dessen Locken unter einer karierten Ginghamhaube herausquollen, war noch viel roter als das des Mannes, fast wie Feuerschein.
Kein Zweifel, es waren die Menschen, von denen sich Jacob und Irene vor eineinhalb Wochen verabschiedet hatten. Die ihnen ans Herz gewachsen waren und die sie schon niemals wiederzusehen furchteten.
Irene hielt es nicht mehr auf der Bank.
Sie sprang auf und rief: »Martin! Urilla!«
Uberrascht blickten der Mann und die Frau auf dem Wagen zum Gastehaus.
Irene wollte ins Freie laufen, ihnen entgegen, aber Eliza Bradden zischte mit scharfer Stimme: »Bleib stehen!«
Irene dachte an Jamie und gehorchte.
»Wer ist das?« wollte die altere Frau wissen.
»Freunde aus Abners Hope. Der Mann war schon auf dem Schiff, mit dem ich nach New York gefahren bin. Die Frau ist auf dem Treck nach Oregon zu uns gesto?en.«
»Was wollen sie hier?«
»Keine Ahnung«, antwortete Irene ehrlich.
»Luge nicht!« keifte Mrs. Bradden. »Denk an dein Kind!«
»Ich luge nicht, wirklich«, sagte Irene und blickte, sehnsuchtig und angsterfullt zugleich, zu Jamie. »Ich habe keine Ahnung, weshalb sie nach Molalla Spring gekommen sind.«
Eliza Bradden sah Irene fest an und warnte: »Denk an das, was John dir gesagt hat. Bleib bei der Geschichte. Sonst passiert was!«
Irene konnte nichts sagen. In ihrer Kehle sa? ein dicker Klo?. Sie schluckte ihn hinunter und nickte zum Zeichen ihres Einverstandnisses.
»Geh zu deinen Freunden und begru? sie!« befahl die Frau des Treck-Captains. »Aber sprecht so laut, da? wir euch horen!«
Langsam ging Irene dem Planwagen entgegen, der in der Nahe des Gastehauses anhielt.
Martin Bauer legte die Zugel auf den Bock und zog die Bremse an. Er strahlte vor lauter Wiedersehensfreude von einem Ohr zum anderen, schob den Hut in den Nacken und rief: »Irene! Ich bin vollig platt, da? ihr hier seid. Ich dachte, ihr waret schon viel weiter. Aber wir freuen uns, nicht wahr?« Er sah Urilla an und druckte ihre Hand. »Wenn ihr dabei seid, ist es das schonste Geschenk fur uns.«
»Wobei?« fragte Irene, als sie neben dem Wagen stand.
»Bei unserer Hochzeit«, antwortete Urilla Anderson und legte eine Hand auf ihren leicht gerundeten Bauch. »Martin hat sich entschlossen, eine ehrbare Frau aus mir zu machen, bevor unser Nachwuchs kommt. Wir haben es uns uberlegt, kurz nachdem ihr weg wart. Insgeheim hatten wir gehofft, euch noch zu treffen.«
»Habt ihr unterwegs nichts bemerkt?« erkundigte sich Irene mit klopfendem Herzen.
Ihr ernster Blick und ihr nicht minder ernster Tonfall wollten nicht zu der heiteren Stimmung der beiden Freunde passen.
»Wovon sprichst du, was sollen wir bemerkt haben?« fragte die Frau mit dem feuerroten Haar.
»Indianer.«
»Was ist passiert?« forschte Martin nach. Die Heiterkeit hatte sein Gesicht schlagartig verlassen. Er hatte gemerkt, da? etwas mit Irene nicht stimmte. Sie schien sich nicht im geringsten uber das Wiedersehen zu freuen.
»Du siehst so besorgt aus, Irene«, fuhr er fort und blickte zum Gastehaus hinuber. »Wieso kummert sich diese Frau dort um Jamie? Wo ist Jacob?«
Irene zogerte mit der Antwort.
Sollte sie ihre Freunde belugen?
Oder bestand eine Chance, da? Martin und Urilla ihr halfen, wenn sie ihnen die Wahrheit sagte?
Zweifelnd sah Irene zum Gastehaus.
Ebenezer Owen stand so starr wie eine Statue unter dem Vordach. Irene konnte nicht sagen, ob er sich im Zweifelsfall gegen seine eigenen Leute stellen wurde.
Eliza Bradden wiegte Jamie sanft hin und her. Aber diese Sanftheit tauschte. Die Frau war fest entschlossen, die dunklen Ziele durchzusetzen, die sie und ihren Mann antrieben. Welche Ziele es im einzelnen auch sein mochten.
Jedenfalls hatte sie Jamie in ihrer Gewalt. Eine falsche Bewegung von ihr genugte, um ihn zu toten.
Und Irene war sich ziemlich sicher, da? Mrs. Bradden im Notfall genau das tun wurde!