Ihr Blick wanderte weiter zur Schmiede, wo ein paar Manner vom Treck zusammen mit dem alten Walt Hickly und einigen bekehrten Indianern arbeiteten. Einer der Manner hielt in der Arbeit inne, eine Zange mit einem gluhenden Hufeisen in der Hand, und erwiderte den Blick der jungen Deutschen. Es war der stets unrasierte Frazer Bradden.
In seinen Augen las Irene nicht nur die Bereitschaft zu toten, sondern auch die Lust daran. Sein Blick enthielt das bose Versprechen, bei nachster Gelegenheit nachzuholen, wobei er vor vier Tagen von Ebenezer Owen gestort worden war.
»Irene!« durchdrang Martins laute Stimme den dampfenden Nebel ihrer hin und her gerissenen Gedanken und Gefuhle. »Was ist mit dir? Warum antwortest du nicht?«
»Ich. ich habe an Jacob gedacht«, stotterte sie.
»An Jacob?« wiederholte Martin mit der dunklen Ahnung eines Unheils. »Was ist mit ihm? Sprich doch endlich!«
Irene fiel es schwer, die bittere Wahrheit auszusprechen. Sie sagte es sehr leise und sehr langsam: »Er ist tot.«
»Tot?« rief Martin unglaubig und schuttelte den Kopf so heftig, da? sein Hut verrutschte. »Das. das kann doch nicht sein!«
»Es ist leider so. Er ist gestorben.« Irene blickte zu der Bergkette hinuber, die sich im Osten des Molalla Valley bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. »Dort, in den Cascades.«
»Wie?« fragte Martin nur, vollig erschuttert.
»Er sturzte in eine tiefe Schlucht.« Sie schluckte und fugte nach einem weiteren Blick auf Jamie und Eliza Bradden hinzu: »Beim Kampf mit Indianern, die uns angriffen.« Sie zeigte zu den Wagen, die bei der Schmiede standen. »Die Menschen vom Treck haben die Nez Perce vertrieben und uns, Jamie und mich, mitgenommen.«
Urilla kletterte vom Wagen, schlo? Irene in die Arme und druckte sie fest an sich. Sie sagte nichts, aber das brauchte sie auch nicht. Ihre Nahe und ihre Freundschaft waren Irene Trost genug.
Plotzlich dachte Irene an die Gefahr, in der Martin und Urilla schwebten, solange sie sich auf dem Gelande der Mission befanden. Falls sie merkten, wie die Dinge wirklich lagen, konnten sie leicht die Feindschaft zu spuren bekommen, mit der die Leute aus Greenbush allen begegneten, die sich ihnen entgegenstellten. Irene wollte nicht, da? den Freunden etwas zustie?.
Nicht Martin, der gemeinsam mit Jacob wie ein Schutzengel auf der langen Reise von Hamburg bis nach Oregon uber Irene und Jamie gewacht hatte.
Und nicht Urilla, in deren Bauch neues Leben heranwuchs.
Sie wollte Urilla eine Warnung ins Ohr flustern. Aber sie traute sich nicht.
Die beiden Augenpaare, die standig auf sie gerichtet waren, hielten sie davon ab. Die Augen von Eliza Bradden und die von ihrem Schwager Frazer.
»Guten Tag und willkommen in Molalla Spring!« sagte eine tiefe Stimme hinter Irene. »Seid ihr auch auf der Flucht vor den Nez Perce?«
Es war Simon Mercer, der mit gro?en und doch gemessenen Schritten auf den Wagen zutrat und sich vorstellte.
»Nein«, antwortete Martin. »Wir kamen her, um uns von Ihnen trauen zu lassen, Sir. Aber jetzt wei? ich nicht, ob das die rechte Zeit ist.«
»Wieso?« fragte der Missionar.
»Weil ich gerade erfahren habe, da? mein bester Freund gestorben ist.«
»Ihr Freund?«
Irene erklarte es dem Missionar.
»Versorgen Sie Ihre Tiere und kommen Sie dann mit Ihrer Braut in mein Haus, Mr. Bauer«, schlug Mercer vor. »Dort sprechen wir uber alles.«
Ein Indianerjunge lief herbei, um den Neuankommlingen zu helfen. Er und Martin kummerten sich um die Maultiere, wahrend Urilla mit Irene zu Jamie, Mrs. Bradden und Ebenezer Owen ging.
Als Martin kam, um mit Urilla zum Missionshaus zu gehen, fragte er Irene, ob sie mitkommen wolle.
»Ich bleibe lieber mit Jamie hier, an der frischen Luft«, antwortete sie.
»Wir sehen uns nachher«, versprach Martin und nahm Urilla mit.
Irene fuhlte sich erleichtert und beschwert zugleich.
Erleichtert daruber, da? ihre Freunde nichts bemerkt hatten und da? Jamie nichts zugesto?en war.
Beschwert, weil sie Martin und Urilla belogen hatte. Und weil das junge Paar jetzt ebenfalls in Gefahr schwebte.
*
Nach einer knappen Stunde kehrten Martin und Urilla zuruck. Sie schienen sich ahnlich zu fuhlen wie Irene. Ihr leichter Gang verriet, da? eine Last von ihnen genommen war. Aber ihre Mienen wirkten eher duster.
Irene sa? noch mit Mrs. Bradden und Jamie vor dem Gastehaus. Ebenezer Owen war zum Missionshaus gegangen, um nach seiner Frau zu sehen. Frazer Bradden lungerte in der Nahe des Gastehauses herum und tat so, als schnitze er mit seinem gro?en Bowiemesser einen Holzscheit zurecht. In Wahrheit hobelte er nur dicke Spane ab. Jede seiner Bewegungen verriet, mit welcher Lust er die scharfe Klinge fuhrte.
»Wir werden heiraten«, erklarte Martin. »Ich hoffe, du verstehst das nicht falsch, Irene.«
»Warum sollte ich?«
»Weil Jacob erst so kurze Zeit. tot ist. Wir haben daran gedacht, erst spater zu heiraten. Woanders, in Deutschland, hatten wir es so gehalten. Aber wer wei?, wann wir hier wieder einmal einem Geistlichen begegnen?«
»Ihr mu?t euch nicht entschuldigen«, sagte Irene. »Ich verstehe das voll und ganz.«
»Gut«, sagte Martin erleichtert.
Urilla fragte: »Du bist doch bei unserer Hochzeit dabei?«
Irene sah zu Frazer Bradden hinuber und erwiderte: »Ich wei? nicht, ob ich dann noch hier bin.«
»Bestimmt«, sagte Urilla. »Die Trauung ist in einer Stunde.«
»So schnell schon?« fragte Irene uberrascht.
»Ja, so schnell«, nickte Martin. »Mr. Mercer hielt es fur besser. Und wir auch. Wenn die Nez Perce wirklich auf dem Kriegspfad sind, ist es wichtig, da? Urilla und ich morgen schon heimkehren. Wir mussen unsere Freunde in Abners Hope vor den Indianern warnen.«
»Ja, das stimmt«, meinte Irene.
Es war wirklich am besten so, auch fur Martin und Urilla, fand Irene nach kurzem Nachdenken. Je eher das Paar Molalla Spring wieder verlie?, desto besser.
Nicht nur fur die beiden.
»Kommst du mit uns?« fragte Urilla.
»Wie?« Irene blickte die Freundin fragend an.
»Urilla mochte wissen, ob du mit uns nach Abners Hope zuruckkehrst«, erklarte Martin. »Wir wurden uns sehr daruber freuen.«
»Ich wei? nicht«, sagte Irene zogernd.
Naturlich begru?te sie die Gelegenheit, von dem Treck der Verdammten wegzukommen. Die Frage war nur, ob die Leute aus Greenbush sie so einfach gehen lie?en. Sie und Jamie!
»Naturlich wurden wir dir helfen, nach Kalifornien zu kommen, um Carl Dilger zu finden«, sagte Martin. »Sobald unser Kind da ist und sich die Indianerunruhen gelegt haben.«
»Ich uberlege es mir«, erwiderte Irene.
*
Eine Stunde spater rief das helle, fordernde Lauten der Kirchenglocke die Menschen zur Trauung zusammen. Und sie stromten in die gro?e Kirche, den Mittelpunkt der Missionsstation.
Martin und Urilla, die sich umgezogen hatten und nun ihre besten Kleider trugen.
Martin einen dunklen Anzug, dem man bei naherer Betrachtung allerdings ansah, da? er schon viele Jahre auf dem Buckel hatte. Der sommersprossige Bauernsohn aus der Luneburger Heide konnte nicht sein erster Besitzer sein.
Urillas hellblaues, ruschenverziertes Kleid stammte noch aus der Zeit als Saloongirl in Kansas City. Aber das