»Jaaa!« schrie die Frau. »Sie haben die Schuld daran, Adler. Sie, dieser Martin Bauer und Ihre blonde Freundin!«
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte der junge Deutsche und deutete auf den Schleier. »Wie ist das geschehen?«
»Ich war bereits im Ohio, als das Feuer uber mich kam. Plotzlich war es uberall. Selbst das Wasser schien zu brennen!«
»Vielleicht ausgelaufenes Petroleum«, vermutete Jacob.
»Hm«, brummte Hansen, »konnte sein.«
»Ich konnte mich nur retten, indem ich untertauchte«, fuhr Mrs. Marquand fort. »Aber da war es schon zu spat. Alles war verbrannt, meine Kleidung und mein ganzer Korper. Nur meine Haare nicht!« Sie schuttelte den Kopf und lie? die prachtigen roten Locken wie eine Fahne wehen. »Ist das nicht komisch?«
»Komisch ist wohl kaum der richtige Ausdruck«, meinte Jacob und fragte: »Wie ging es weiter mit Ihnen?«
»Ein paar Hinterwaldler fischten mich aus dem Flu?. Sie lebten in einer kleinen Siedlung zusammen mit irgendwelchen Indianern. Ich wei? nicht mal, von was fur einem Stamm die waren. Aber sie schafften es durch ihre Krauter, mit denen sie meinen Korper immer und immer wieder einhullten, die Wunden zu verschlie?en und mich am Sterben zu hindern. Lange Zeit wunschte ich mir nichts so sehr wie zu sterben. Ich war wie von Sinnen. Aber langsam kehrte mein Verstand zuruck, und ich dachte an Alec.«
Sie schluckte schwer und fuhr dann fort: »Eines Nachts stahl ich mich davon. Es trieb mich zu Alec, obwohl ich wu?te, da? ich ihm niemals wieder unter die Augen treten konnte. Nicht so, wie ich aussah.«
Ihre hastig hervorgesto?enen Worte gingen in ein Schluchzen uber.
»Er sollte mich doch als die Frau in Erinnerung behalten, die er geliebt und geheiratet hatte.«
Jacob glaubte zu verstehen, was sie meinte. Er dachte an die Vivian Marquand, die er in Pittsburgh kennengelernt hatte. Eine schone, stolze, von den Mannern bewunderte Frau Anfang der Drei?ig, mit einem schmalen, makellosen Gesicht, fur das die flammendroten Locken den richtigen Rahmen abgaben.
Damals!
Jetzt war es anders geworden. Die Schonheit hatte sich in ein Schreckgespenst verwandelt, jedenfalls in den Augen der oft gedankenlosen Mitmenschen.
Schon eine Frau, die vorher ha?lich wie die Nacht gewesen war, hatte unter Vivian Marquands Entstellungen Hollenqualen gelitten. Wieviel schlimmer mu?te es erst dieser einstmals wunderschonen Frau gehen?
Eigentlich ware sie zu bemitleiden gewesen, ware mit ihrem Korper - wie es schien - nicht auch ihre Seele verbrannt.
Jacob hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Arme. »Aber warum geben Sie mir und meinen Freunden die Schuld an Ihrem Schicksal?«
»Ohne Sie ware alles anders gekommen. Dann ware die ONTARIO vielleicht nicht gesunken. Und ich. ich ware noch die Frau von fruher!«
»Sie selbst haben uns an Bord der ONTARIO geholt«, erinnerte Jacob die Frau.
Sie schwieg lange und sagte dann: »Vielleicht haben Sie damit recht, Adler. Vielleicht bin ich ungerecht, was die Sache auf dem Ohio betrifft. Aber Sie konnen nicht leugnen, da? Sie die Schuld an dem trifft, was Alec zugesto?en ist! Captain Quantrill hat dem Hauptquartier alles berichtet.«
Jacob schuttelte den Kopf und begann laut zu lachen.
»Was finden Sie daran so lustig, Adler?« erkundigte sich Mrs. Marquand im scharfen Ton.
»Nicht lustig, sondern tragikomisch«, berichtigte der junge Zimmermann. »Ihr Mann hielt Sie nach dem Untergang der ONTARIO fur tot, wie wir alle. Deshalb wollte er sich an mir rachen, wie er mir auf der McMillan- Farm sagte. Dabei konnte ich ihn uberwaltigen. Und dafur wollen Sie sich jetzt an mir rachen, Mrs. Marquand! Finden Sie das nicht verruckt?«
»Verruckt?«
Die Frau zuckte mit den Schultern.
»Wurde mir mal jemand auf die Sprunge helfen?« bat Piet Hansen. »Was hast du mit diesem Mr. Alec Marquand zu tun, Jacob?«
»Nicht viel. Ich habe nur einen bescheidenen Beitrag dazu geleistet, ihn und seine Kumpane daran zu hindern, Lincoln zu ermorden. Dabei geriet Marquand in Gefangenschaft.«
»Lincoln?« betonte Hansen jede Silbe. »Sprichst du von Prasident Abraham Lincoln, Junge?«
»Ich kenne keinen anderen.«
»Beim muschelgeschmuckten Barte Neptuns, du mu?t seit New York wirklich allerhand erlebt haben«, staunte der Kapitan. »Sag blo?, du hast Lincoln selbst gesehen?«
Der Auswanderer nickte. »Ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen. Er hat Martin, Irene und mir sogar als Beweis seiner Dankbarkeit die Fahrt den Mississippi hinauf bezahlt.«
Jacob wandte sich wieder der Frau zu.
»Wollen Sie nicht versuchen, Ihren Ha? zu begraben, Mrs.
Marquand? Vielleicht gibt es doch eine gemeinsame Zukunft fur Sie und Ihren Mann, wenn dieser verdammte Krieg erst vorbei ist. Wenn Ihr Mann Sie wirklich liebt.«
»Fur uns gibt es keine gemeinsame Zukunft!« unterbrach sie den Deutschen barsch.
»Woher wollen Sie das so genau wissen?«
»Vor anderthalb Monaten erhielt ich die Nachricht, da? Alec wegen Spionage, Verschworung und des versuchten Mordanschlags auf Lincoln zum Tode verurteilt und in Philadelphia erschossen worden ist.«
»Das wu?te ich nicht«, sagte Jacob leise.
Die verschleierte Frau stand auf.
»Ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen. Bringen Sie mich bitte zuruck!«
Jacob und Piet Hansen erfullten ihr den Wunsch und fuhrten sie zur Gefangenenkajute.
»Ich mu? Sie wieder fesseln«, sagte der Kapitan, als sich die Frau auf den Boden legte.
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, lautete die kuhle Antwort.
Als Hansen fertig war, meinte er stolz zu Jacob: »Doppelter Spezial-Seemannsknoten. Den bekommt niemand auf!«
Hatten sie hinter den schwarzen Schleier sehen konnen, hatten sie die groteske Verzerrung der narbigen Fratze bemerkt, die ein fur Piet Hansen und Jacob Adler wenig Gutes verhei?endes Grinsen bedeutete.
*
In der Kapitanskajute wartete nicht nur Irene auf Jacob und Piet Hansen, sondern auch das Essen. Dampfhei?e Wohlgeruche erfullten den Raum. Der dicke Schiffskoch Dietrich Melzer aus Pommern, den Jacob und Irene noch von ihrer ersten Reise auf der ALBANY kannten, hatte sich wirklich Muhe gegeben. Es gab Ente in Preiselbeerso?e, dazu Rotkohl, Semmelknodel und Bratapfel, die mit einer undefinierbaren, aber uberaus leckeren Fullung versehen waren. Dazu lie? Hansen einen Rotwein bringen, franzosischen, wie er eigens bemerkte.
»Hat heute jemand Geburtstag?« fragte Irene zum Spa?.
Und Jacob meinte, kaum sein genu?volles Kauen unterbrechend: »Das ist ja wie Weihnachten.«
»Hmm«, machte Irene und schluckte einen gro?en Bissen hinunter. »Weihnachten war unser Essen nicht so delikat.«
Vielleicht war das Essen nicht so raffiniert gewesen, dachte Jacob. Aber er hatte das Weihnachtsfest in der verschneiten Siedlung Abners Hope genossen.
Nach den vielen Aufregungen und Strapazen des gro?en Trecks uber die Rocky Mountains hatten die Wochen der Ruhe und Beschaulichkeit gutgetan. Die Ereignisse auf der ALBANY zeigten, wie wichtig die Verschnaufpause gewesen war, um frische Krafte zu sammeln.
Jacob dachte mit Wehmut an die kleine Siedlung in einem fruchtbaren Tal ostlich der Cascade Range. Beim Bau der Blockhauser war der Zimmermann ma?geblich beteiligt gewesen. Mit jedem dieser Hauser verband er vertraute Gesichter.
Er hatte viele Freunde dort zuruckgelassen. Einen vermi?te er besonders: Martin.
Nach dem Essen raumte der schwarze Schiffsjunge den Tisch ab. Hansen fullte die Weinglaser auf. Dann erzahlte Jacob von dem Gesprach mit Vivian Marquand.
»Klingt nicht sehr erheiternd«, kommentierte Irene mit dusterer Miene den Bericht. »Unsere Bekanntschaft mit Mrs. Marquand hat von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden.«