»Weil diese Frau euch belogen hat!« sagte Piet Hansen. »Sie wollte euch fur ihre eigenen Zwecke einspannen. Daraus konnte nichts Gutes erwachsen. Alles, was geschehen ist, hat sie selbst zu verantworten.«
»Sie sollten nicht zu hart uber sie urteilen, Piet«, seufzte Irene.
»Nanu?« gab sich der Kapitan erstaunt. »Das klingt fast so, als wurdest du das Handeln dieser Frau billigen.«
»Billigen nicht, aber ich verstehe es vielleicht zum Teil. Au?erdem werde ich ihr nicht vergessen, da? sie sich um mich und Jamie gekummert hat, als ich nach dem Sturz in den Ohio im Fieberwahn lag. Und sie hat Jacob, Martin und mich gerettet, als Max Quidor uns toten wollte.«
»Jaaa«, knurrte Hansen gedehnt, und schon die Stimmlage kundete von seiner Mi?billigung. »Und vor einigen Stunden wollte sie Jacob erschie?en!«
»Lassen wir das«, schlug Jacob vor und fugte in volliger Fehleinschatzung der Lage hinzu: »Mrs. Marquand kann uns nicht mehr gefahrlich werden.«
Er beugte sich weit uber den Tisch und blickte in das bartige Gesicht des Kapitans.
»Sprechen wir lieber von Ihnen, Piet!«
»Von mir?«
Er spielte den Unwissenden. Aber die Runzeln, die sich auf seiner Stirn bildeten, und das Zusammenziehen der Augen verrieten den alten Seemann. Er wu?te, was jetzt kommen wurde. Und darauf freute er sich ganz und gar nicht.
»Von Ihnen, Piet«, nickte Jacob bekraftigend. »Und von Ihrer seltsamen Geschaftsverbindung zu diesem Arnold Schelp. Meinen Sie nicht, da? Irene und ich ein Anrecht haben, die ganze Geschichte zu horen?«
»Doch, wahrscheinlich«, brummelte der Kapitan und trank einen gehorigen Schluck Wein. »Aber die Geschichte ist nicht schon und ein bi?chen verwickelt.«
»Fangen wir doch mit etwas Einfachem an«, sagte der Zimmermann. »Was fur eine Fracht hat die ALBANY geladen?«
»Kanonen fur die belagerten Sudstaatler in Texas.«
»Baut man dort keine Kanonen?« fragte Irene.
»Nicht viele«, antwortete Hansen. »Der Suden hat immer von der Landwirtschaft gelebt, von seinen gro?en Plantagen, vor allem von der Baumwolle. Fur die Schwerindustrie ist der Norden zustandig. Das hat sich im Krieg verhangnisvoll fur den Suden ausgewirkt. Wo die gro?en Fabriken des Nordens immer mehr und immer bessere Waffen herstellen, mussen sich die Sudstaatler alles muhsam zusammenklauben. Und selbst das wird immer schwieriger durch die Gelandegewinne der Union und durch die Seeblockade. Zur Zeit sind die Konfoderierten auf die Einfuhr von Kriegsgerat starker angewiesen denn je. Und Kerle wie dieser Schelp verdienen sich daran eine goldene Nase!«
Hansen sprach von dem rothaarigen Geschaftemacher mit unuberhorbarer Verachtung.
Um so mehr verwunderte es Jacob, da? Hansen sich mit ihm eingelassen hatte. Was er dem Kapitan auch sagte.
»Mit Schelp ist das so eine Geschichte«, erwiderte Hansen zogernd.
Wahrend er sprach, wanderte sein Geist weit zuruck, mehr als zwanzig Jahre in die Vergangenheit.
Er war wieder Kapitan an Bord der HENRIETTA. Die Auswanderer-Bark geriet mitten im Armelkanal in einen plotzlichen, verheerenden Sturm. Ein wahrer Orkan. Er brach so schnell uber den dreimastigen Segler herein, da? die Besatzung nicht mehr alle Befehle ihres jungen Kapitans zum Einholen und Reffen der Segel ausfuhren konnte.
Trotzdem war Hansen, der damals noch Hannes Peterson hie?, guter Hoffnung, die HENRIETTA ohne gro?ere Schaden auf Kurs zu halten. Schlie?lich war er ein guter Kapitan -jedenfalls glaubte er das. Doch dann geschah das Unfa?liche: Samtliche Pumpen fielen kurz hintereinander aus.
Die HENRIETTA sank wie ein Stein, den jemand ins Wasser geworfen hatte. Und nur wenige der funfhundert Menschen an Bord konnten sich retten.
Das erzahlte Piet Hansen schweren Herzens den beiden jungen Auswanderern und schlo?: »So verlor ich mein erstes Schiff und lud eine Schuld auf mich, die ich niemals abbezahlen kann. Im Strafproze? wurde ich zwar freigesprochen, da man mir die Schuld an dem Ungluck nicht nachweisen konnte. Aber vor dem Seefahrtsgericht wurde mir das Recht aberkannt, jemals wieder als Kapitan ein Schiff zu fuhren.«
»Warum?« fragte Irene, die das alles erst noch richtig verdauen mu?te.
»Ich hatte zwar die Prufung bestanden und sollte das Kapitanspatent erhalten, als ich die HENRIETTA ubernahm, aber ich hatte es noch nicht. Doch der fur die Amerika-Fahrt vorgesehene Kapitan wurde kurz vor dem Auslaufen schwer krank. Der Reeder bekniete mich, das Kommando zu ubernehmen. Er versprach mir, alle Formalitaten zu regeln. Ich hatte nicht viel Zeit. In meiner jugendlichen Unreife und in dem Stolz uber mein erstes Kommando sagte ich zu. Das war ein verhangnisvoller Fehler. Heute wei? ich, da? ich das Opfer einer Intrige wurde.«
Jacob starrte ihn unglaubig an.
»Was fur eine Intrige, Piet?«
»Die HENRIETTA
»Das ist doch Mord!« rief Irene emport und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Sie war so laut gewesen, da? sie befurchtete, ihren in Hansens Kleiderkiste schlafenden Sohn zu wecken.
»Nein, es ist nur meine Vermutung«, widersprach Hansen. »Die Beweise liegen auf dem Grund des Armelkanals, fur alle Zeiten. Au?erdem verschwanden der Reeder und der Kapitan, bevor man auch nur Anklage gegen sie erheben konnte. Selbstverstandlich setzten sie sich erst ab, als die Versicherung bezahlt hatte.«
»Und Sie mu?ten die ganze Verantwortung ubernehmen«, nickte Irene mitfuhlend. »Sie wurden von der Offentlichkeit zum Prugelknaben gemacht, nicht wahr?«
»Ja«, seufzte Hansen. »Zu Recht.«
»Wie konnen Sie so etwas sagen?« erwiderte die junge Frau entrustet.
»Es ist die Wahrheit«, beharrte der Kapitan. »Ware ich nicht so hitzkopfig gewesen, hatte ich mir die HENRIETTA genauer angesehen, bevor ich in See stach. Au?erlich schienen die Pumpen ja in Ordnung zu sein, aber ich hatte sie auf Herz und Nieren prufen mussen, bevor ich ihnen das Leben der Auswanderer und meiner Besatzung anvertraute. Es mu?te nur alles so verflucht schnell gehen!«
Er leerte sein Weinglas in einem langen Zug und stellte es mit hartem Klirren zuruck auf den Tisch.
»Doch es war ganz klar mein Fehler. Und deshalb hatte das Seefahrtsgericht recht, als es mir das Recht absprach, jemals wieder ein eigenes Schiff zu fuhren. Aber wie ihr seht, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. In Deutschland ware es mir wohl nicht gelungen. Aber da die ALBANY unter amerikanischer Flagge segelt, gelang es. Mein falscher Name machte es moglich. Dabei nahm ich ihn kurz nach dem Proze? nicht deswegen an, sondern nur, weil ich mich zu sehr schamte. Inzwischen habe ich mich so an ihn gewohnt, da? ich nur noch selten an den Namen denke, unter dem ich geboren wurde.«
»Trotzdem wundert es mich, da? Sie unter falschem Namen anheuern konnten«, merkte Jacob an.
»Ich suchte mir keine deutschen Schiffe aus, sondern auslandische. Und ich versah meinen Dienst anfangs in viel niedrigeren Stellungen, als es meiner Ausbildung entsprach. Fur wenig Geld. Da fragte niemand nach ordentlichen Papieren. Mir war's gleichgultig. Ich wollte nur weg von Deutschland, hinaus aufs Meer.«
Hansen schwieg. Seine Augen blickten durch die beiden ergriffenen Zuhorer hindurch, Raum und Zeit uberwindend, in seine eigene Vergangenheit.
Jacob und Irene verstanden, da? er Vergangenes noch einmal durchlebte. Sie wu?ten nicht, ob es gut oder schlecht war, ihn zu storen. Also schwiegen auch sie.
Bis Hansen zur Weinflasche griff und gedankenverloren sein Glas fullte.
»Das ist eine bittere Geschichte, Piet«, sagte Jacob einfuhlsam. »Aber sie erklart uns nicht, weshalb sie sich mit Schelp eingelassen haben.«
»Schelp!« stie? der Kapitan der ALBANY grimmig hervor. »Seinetwegen habe ich das wieder getan, was ich nie mehr tun wollte. Wieder habe ich mein Schiff und die Menschen an Bord ohne Notwendigkeit in Todesgefahr