»Zur Kuste naturlich!« knurrte Schelp. »Bis nach San Francisco schaffen wir es in dieser Nu?schale niemals.«

*

»Ich werde alle Boote wassern und so lange nach diesen Ratten suchen, bis ich sie habe!« sagte Piet Hansen mit verbissenem Gesicht.

Er stand neben Jacob und Irene an der Reling, umkrampfte diese mit seinen Fausten und starrte hinaus auf das samtig glitzernde Meer, das irgendwo am Horizont mit dem Nachthimmel verschmolz.

Von dem fehlenden Ruderboot und von den vier Entflohenen war nichts zu sehen und zu horen.

Naturlich nicht.

Auch wenn die Flucht von einem Matrosen der Bordwache sofort entdeckt worden war, hatte es seine Zeit gedauert, bis der Kapitan benachrichtigt wurde und dieser wiederum sein Schiff beidrehen lie?. Dadurch lag ungefahr eine Seemeile zwischen der ALBANY und dem Ruderboot.

»Hat das denn Sinn?« fragte Irene zweifelnd. »Konnen wir Mrs. Marquand und die anderen in der Dunkelheit wiederfinden?«

»Wir mussen!« polterte Hansen und sah zum Ruderhaus, wo Joe Weisman das Steuerrad ubernommen hatte.

Neben ihm lag der leblose Korper Georg Mollers, den sie vom Steuer hatten schneiden mussen. So leblos wie der Matrose unten in der Kajute. In beider Manner Kehlen klafften gro?e blutige Wunden.

»Immerhin kennen wir die Fluchtroute«, fuhr der Kapitan fort. »Sie konnen nur zur Kuste rudern. Alles andere ware Wahnsinn, ohne Proviant und nautische Kenntnisse.«

Jacob seufzte schwer und meinte: »Die kalifornische Kuste ist ein recht langes Gebilde, habe ich mir sagen lassen. Ich sehe die Strolche nur ungern entkommen, aber besteht wirklich eine Aussicht, da? wir sie wiederfinden?«

»Vielleicht nicht jetzt in der Nacht.« Hansen blickte prufend in den Himmel. »Aber bald wird der Morgen grauen. Wenn wir mit der ALBANY vor diesem Kustenabschnitt kreuzen, mu?ten wir auf das Boot sto?en.«

»Vielleicht«, erwiderte Jacob wenig begeistert. »Und wenn die amerikanischen Kriegsschiffe hier auftauchen, sto?en sie auf die ALBANY. Wenn wir Pech haben, eroffnen sie das Feuer, ohne sich erst nach unserem Gesinnungswandel zu erkundigen.«

Hansen stie? einen Fluch aus, der Irene trotz ihrer Vertrautheit mit dem Seemann erroten lie?.

»Jacob, du hast recht. Wir konnten uns damit ins eigene Fleisch schneiden, und das verdammt tief.«

Der Kapitan seufzte schwer und sagte dann: »Blo? die Alternative gefallt mir nicht. Ich hatte mich schon darauf gefreut, diese Lumpen in Frisco den Behorden zu ubergeben. Nach diesem Doppelmord wurde ich mich sogar freuen, sie am Galgen baumeln zu sehen. Es ist ein sehr gefahrliches Pack!«

»Gerade deshalb sollten wir froh sein, da? wir sie los sind«, meinte Irene.

Hansen uberlegte und nickte dann.

»Aye, das ist wohl so. Gut, wir segeln auf dem alten Kurs weiter und uberlassen Schelp und die anderen ihrem hoffentlich nicht zu gnadigen Schicksal.«

Er trat von der Reling weg, um die notigen Befehle ubers Deck zu brullen.

Wahrend die Bark wieder auf Nordkurs ging, blieben die beiden jungen Auswanderer noch eine ganze Weile an der Reling stehen und starrten hinaus aufs Meer.

Beide dachten an Vivian Marquand und das, was aus der Frau geworden war.

Beide fuhlten sich erleichtert, da? sie nicht langer an Bord war.

Und beiden war unwohl bei dem Gedanken, da? sich die Frau in Schwarz wieder auf freiem Fu? befand.

*

Die beeindruckende Bucht von San Francisco tauchte erst am Nachmittag des dritten Tages nach der nachtlichen Flucht vor dem schlanken Bug der ALBANY auf.

Der Sturmwind hatte sich mit unerwarteter Schnelligkeit gelegt, fast herrschte eine Flaute. Die Segel hingen mit trauriger Schlaffheit an den Rahen. Deshalb kam die Bark viel langsamer voran, als Piet Hansen angenommen hatte.

»Nur gut, da? wir die Kriegsschiffe abgeschuttelt haben«, brummte der Kapitan irgendwann. »Bei diesem Wind, den man kaum so nennen kann, waren sie uns mit ihrem Dampfantrieb hoffnungslos uberlegen.«

Als der Dreimaster durch die enge Einfahrt der Bucht glitt, standen fast alle Passagiere an der Reling, um erwartungsvoll dem Ziel ihrer unerwartet dramatisch verlaufenen Seereise entgegenzublicken.

Jacob und Irene mit Jamie hatten sich zu Piet Hansen auf die Brucke gesellt. Selbst der kleine Junge in den Armen seiner Mutter hatte die Auglein weit aufgerissen, als sei er neugierig auf die neue Umgebung. Und vielleicht war er das auch.

Jacob sah der beruhmten Stadt an der Pazifikkuste mit sehr gemischten Gefuhlen entgegen.

Zum einen bedruckte ihn der Gedanke, da? er und Irene mit dem Betreten kalifornischen Bodens ihre Aufgabe noch keineswegs erfullt hatten. Das Land am Pazifik war riesig und Carl Dilger nur einer von vielen tausend Glucksrittern.

Zum anderen betrubte ihn das, was Piet Hansen hier erwartete. Der Seebar wurde aufgrund seines zwielichtigen Geschaftsverhaltnisses mit Arnold Schelp keinen leichten Stand bei den Behorden haben.

Das erste, was den Menschen an Bord der ALBANY auffiel, war der Wald von Masten und Schornsteinen vor der Kuste. Hatten Jacob und Irene einen ahnlichen Anblick nicht schon von New York gekannt, hatte es ihnen die Sprache verschlagen. Doch im Hafen von San Francisco schienen fast noch mehr Schiffe zu ankern als vor der Stadt an der Ostkuste.

Jacob sprach den Kapitan darauf an und meinte: »Wenn man sich die Anzahl der Schiffe ansieht, bekommt man einen Eindruck, wie viele Menschen hier an Land gehen, um nach Gold zu suchen.«

Nur in Gedanken setzte er hinzu: Und wie schwierig es sein wird, Carl Dilgers Spur aufzunehmen. Er sprach es nicht aus, um Irene nicht unnotig zu beunruhigen.

»Ja, es ist schon eine Menge«, nickte Hansen. »Aber einige sind auch Wracks. Ihr werdet es sehen, wenn wir uns dem Hafen nahern. Schiffe, deren Mannschaften einfach desertiert sind, weil der Goldstaub ihnen lohnender erschien als die Heuer.«

»Dann mussen Sie auf Ihre Leute aufpassen, Kapten«, lachelte Irene.

»Das werde ich. Trotzdem sehe ich einige der Manner bestimmt zum letzten Mal, wenn sie an Land gehen. Jeder Kapitan, der Frisco anlauft, mu? damit rechnen.«

Die auf mehreren Hugeln erbaute Stadt wuchs und fullte bald den vorderen Horizont aus. Ein Meer von Hausern in den Ebenen, auf den Kuppen von Hugeln oder auch an die Hange gelehnt, soweit das Auge reichte.

Im Gegensatz zu New York waren die Hauser hier viel niedriger. Und wahrend in New York die Gebaude aus Stein waren, gab es hier jede Menge Holzhauser, gerade unter den gro?en Gebauden.

Als Jacob das laut bemerkte, erklarte der Kapitan: »Die Leute in Frisco furchten die Erdbeben mehr als das Feuer. Beides sind die standigen Plagen dieser Stadt. Die Holzgebaude halten den Erdschwankungen besser stand als solche aus Stein. Lieber fluchten die Menschen vor den Flammen und bauen die Hauser neu auf, als da? sie sich wahrend eines Erdbebens von den zusammensturzenden Steinen begraben lassen.«

Spater, an Land, stellte Jacob fest, da? Hansen nicht ubertrieben hatte. Der Auswanderer sah ganze Stra?enzuge mit rauch- und ru?geschwarzten Hauswanden - Gebaude, die einer Feuersbrunst nur knapp entgangen waren.

Der Kapitan beugte sich zu Joe Weisman hinuber, der das Steuer hielt. Er gab dem gedrungenen Deutsch- Amerikaner ein paar Anweisungen, wie er die ALBANY zwischen den Untiefen und den immer zahlreicher werdenden anderen Schiffen hindurch zu manovrieren hatte.

»Sie kennen sich hier gut aus, Piet«, staunte Irene.

»Ich war ofter in Frisco, schon damals, als das hier ein armseliges Dorf mit nur einigen hundert Seelen war; heute sind es zigtausend. Das war vor dem gro?en Goldrausch von Neunundvierzig. Viele nannten den Ort noch bei seinem spanischen Namen Yerba Buena.«

»Was hei?t das?« fragte die junge Frau.

»Gutes Kraut. Die Spanier, die das Land von Mexiko aus besiedelten, tauften dieses Tal hier wegen seiner Fruchtbarkeit El Paraje de Yerba Buena - das kleine Tal der guten Krauter. San Francisco war ursprunglich nur der

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