Name der Missionsstation.«

Ein kleiner Seitenraddampfer schaufelte sich durch die brackigen Fluten auf die ALBANY zu. Bei seinem Anblick verdusterte sich das Gesicht des Kapitans.

»Das Boot der Hafenbehorde«, sagte er. »Die Zoll- und Quarantanebeamten. Und falls sich schon herumgesprochen hat, wer wir sind, vielleicht auch Militar.«

»Damit haben wir doch gerechnet«, erwiderte Jacob. »Schlie?lich wollten Sie sich hier den Behorden stellen.«

»Ja. Aber ich ware froh gewesen, wenn ich euch und die anderen Passagiere erst an Land hatte setzen konnen. Wenn ihr Pech habt, werdet ihr alle unter Arrest gestellt, bis die Sache geklart ist. Und das kann dauern bis.«

Er brach ab und starrte mit offenem Mund voraus.

Dort drehte der kleine Dampfer gerade so rasant nach Steuerbord ab, da? sich das Boot auf die rechte Seite legte. Das linke Schaufelrad ragte weit in die Luft. Fast sah es so aus, als wurde die Barkasse kentern. Aber dann lag sie wieder sicher im Wasser und rauschte unter ihrer schwarzgrauen Rauchfahne davon.

»Was ist denn jetzt los?« fragte Irene erstaunt. »Die Behorden scheinen nichts von uns wissen zu wollen!«

Das Ziel der Barkasse war ein anderes Schiff, das kurz hinter der ALBANY in die Bucht gefahren war. Es war auch ein Seitenraddampfer, aber ungleich gro?er und wuchtiger als das Boot der Hafenbehorde. Und nicht nur die kleine Dampfbarkasse hielt auf den machtigen Dampfer zu. Von uberall naherten sich ihm kleine Boote, von Dampf angetrieben, durch Segel und Wind oder durch Ruder und Muskelkraft.

Piet Hansens eben noch nachdenklich wirkendes Gesicht hellte sich auf, als er laut ausrief: »Ich habe gar nicht dran gedacht, heute ist der erste Marz!«

»Na und?« meinte Jacob verstandnislos. »Was spielt das heutige Datum fur eine Rolle?«

»Eine ganz entscheidende!« nickte der Kapitan bekraftigend. »Vielleicht kann ich euch und die anderen Passagiere doch an Land setzen, bevor die Behorden auf die ALBANY aufmerksam werden. Auch Beamte und Soldaten warten namlich sehnsuchtig auf die neuesten Nachrichten und die Post von ihren Liebsten.«

Hansens Rechte wies zu dem umlagerten gro?en Seitenraddampfer, dessen in dicken Lettern auf den Bug gepinselter Name jetzt deutlich erkennbar war: PACIFIC PRINCESS - die Pazifik-Prinzessin.

»Heute ist Steamer-Day, ganz wie in den alten Zeiten«, fuhr der Seebar fort. »An jedem ersten und funfzehnten eines Monats kommt, punktlich wie die Maurer, das Postschiff an, das von der Ostkuste aus ums Kap Horn gefahren ist. Es bringt Vorrate, neue Glucksritter und vor allem Neuigkeiten aus dem Osten, fur die mancher hier gern goldene Nuggets gibt.«

Das Bild, das sich Jacob und Irene bot, unterstrich die Worte des Kapitans. So viele kleine Boote umschwarmten die PACIFIC PRINCESS, da? der gro?e Dampfer kaum bis zu dem breiten Kai durchkam, auf dem sich bereits Menschenmassen in freudiger Erwartung zusammendrangten. Manner und Frauen schoben und schubsten einander, und einige platschten ins brackige Hafenwasser.

Der ALBANY gelang es tatsachlich, unbehelligt vor Anker zu gehen. Eilig lie? Hansen breite Planken ausfahren, damit die Passagiere den Segler verlassen konnten.

Jacob schlo? sich ihnen mit gemischten Gefuhlen an. Er dachte an den Kapitan und fuhlte eine Verpflichtung, an Bord zu bleiben und ihm beizustehen.

Doch er hatte auch eine Pflicht gegenuber Irene und Jamie ubernommen. Hansen konnte sich eher selbst helfen als die Frau und das Kind. Gewi?, sie konnten alle an Bord der ALBANY bleiben. Aber dann war es zweifelhaft, ob die Behorden die deutschen Auswanderer so einfach gehen lie?en.

Also tauchten auch der Zimmermann, das ehemalige Dienstmadchen und ihr kleines Kind in das ameisenhafte Gewimmel im Hafen von San Francisco ein, und die drei Masten der ALBANY waren bald nur noch einige von unzahligen.

Wie in einem richtigen Ameisenhaufen war das Durcheinander auch in der gro?en Goldgraberstadt nur ein scheinbares. Jacob stellte schnell fest, da? jedermann ein bestimmtes Ziel verfolgte. Bei vielen war es der anlegende Postdampfer, bei anderen Geschafte, Bars, Saloons oder Lagerhauser.

So vielfaltig wie die Wege der Menschen war auch ihre au?ere Erscheinung.

Einer Menge von Mannern sah man den Goldsucher schon aus der Ferne an. Ihre Kleidung war abgetragen, schmutzig, teilweise zerrissen, und sie schienen sich auch noch etwas darauf einzubilden, wie die Art verriet, in der sie ihre oft vollbartigen Gesichter in die Hohe reckten. Manche hielten junge Madchen und reifere Frauen im Arm, deren Zuneigung sich wohl nach der Schwere des jeweiligen Nuggetbeutels bema?.

Dann gab es viele herausgeputzte Geschaftsleute im Gehrock, an deren Armen sich ebenso herausgeputzte Damen und Damchen haufig vergeblich bemuhten, in der brodelnden Menge so etwas wie wurdevolle Distanz zu bewahren. Einige der teuer gekleideten Ladies mu?ten komische Verrenkungen anstellen, damit ihre verzierten kleinen Sonnenschirme nicht aus ihren behandschuhten Handen gerissen wurden.

Daneben konnte man alle nur vorstellbaren Arten von Gesichtern und Kleidungsstucken auf den Kais und in den Stra?en sehen. Freigelassene Neger mit wulstigen Lippen und krausen Haaren. Langzopfige Chinesen mit breitrandigen, oben spitz zulaufenden Huten oder kleinen Kappen. Mexikaner oder kalifornische Nachfahren der Spanier in teilweise operettenhaft wirkender Kleidung.

Und dazwischen immer wieder die blauen Uniformen der Nordstaaten-Armee. Sie erinnerten Jacob daran, da? diese vom Goldfieber aufgeregte Stadt in einem Land lag, das vom Burgerkrieg zerrissen war. Und daran, da? Piet Hansen sich zwischen die Fronten gewagt hatte.

Die Beschaffenheit der Stra?en stand im krassen Mi?verhaltnis zur Starke ihrer Beanspruchung. Eine Befestigung gab es, wenn man Gluck hatte, nur an den Randern vor den Hausern. Ansonsten bestanden die sogenannten Stra?en, abhangig von Niederschlag und Abwassern, aus Schlamm oder Staub, angereichert mit jeder Art von Abfallen. Wenn man nicht aufpa?te, konnte man bis zu den Huften im Unrat versinken.

Jacob und Irene waren froh, als sie einen mit Brettern ausgelegten Fu?weg entdeckten, der nicht so stark in Anspruch genommen wurde, wie man es bei der Menge der Menschen, die hier unterwegs war, vermutet hatte. Am Ende des Bretterwegs entdeckten die beiden Deutschen den Grund fur diese Zuruckhaltung. Vier grobe, ungewaschene Burschen versperrten den Weg.

Einer trat einen Schritt vor und sagte, grinsend seine schlechten Zahne prasentierend: »Das macht dann sechzig Cent, die Herrschaften.«

Seine schwielige Rechte formte sich zur Klaue, die sich Jacob entgegenreckte.

»Sechzig Cent?« wiederholte der Zimmermann. »Wofur?«

»Fur die Benutzung des Bretterwegs. Das ist namlich ein kostenpflichtiger Privatweg.«

»Das haben wir nicht gewu?t.«

Der Grinser zuckte mit den eckigen Schultern, uber die sich eine zu enge Wolljacke spannte.

»Das Schild am anderen Ende mu? wohl abgefallen sein. Kostet trotzdem sechzig Cent. Funfundzwanzig fur jeden Erwachsenen, zehn fur das Kind.«

»Das ist doch noch ein Baby!« protestierte Jacob. »Es kann gar nicht gehen, hat nicht einen Fu? auf eure Bretter gesetzt.«

»Sonst waren es auch funfzehn Cent«, griente der Mann, und seine Miene verdusterte sich. »Wollt ihr etwa nicht bezahlen?«

Wie beilaufig schlug er die Jacke zur Seite. Jacobs Blick fiel auf den Kolben eines Revolvers und den gro?en Griff eines Messers; beides steckte im Hosenbund des Mannes. Seine drei Gefahrten waren ahnlich bewaffnet.

Mit einem widerwilligen Grunzen zog Jacob ein paar Munzen aus der Jackentasche. Die Stra?enraubermethoden argerten ihn. Aber wenn er sich auf einen Streit einlie?, brachte er Irene und Jamie in Gefahr.

Mit einem falschen Lacheln lie? der Geldeintreiber Jacobs Munzen in der Jackentasche verschwinden und gab den Weg frei.

Bei ihrer Suche nach einer Unterkunft stellten Jacob und Irene bald fest, da? die Sache mit dem Bretterweg keine Ausnahme gewesen war. San Francisco war teuer, sundhaft teuer. Wer in der Stadt lebte, wollte auch am Goldrausch teilhaben. Deshalb kostete hier manches Geld, was anderswo kostenlos war. Und was anderswo auch Geld kostete, war hier um ein Vielfaches teurer.

Tageweise war eine Unterkunft erst gar nicht zu bekommen. Eine Woche im voraus war das mindeste, was

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