Old Pie hatte mir erzahlt, dass zwischen Platte River und Medicine Creek viele Fuchse am Sommerfieber litten, wie die Schoschonen die Tollwut bezeichneten. Irgendein tollwutiges Raubwild im Stall war also vermutlich die Ursache dieser Laute.

Sobald ich aus dem Haus war, klang das schmerzliche Muhen uberaus laut und irgendwie hohl. Hallend. Wie von einer Kuh in einem Brunnen, dachte ich. Bei diesem Gedanken bekam ich eine Gansehaut auf den Armen und umklammerte mein Gewehr fester.

Als ich das zweifluglige Stalltor erreichte und die rechte Halfte mit der Schulter aufdruckte, konnte ich horen, wie die anderen Kuhe mitfuhlend zu muhen begannen, aber diese Laute waren ruhige Erkundigungen im Vergleich zu den schrillen Schmerzenslauten, die mich geweckt hatten … und auch Henry wecken wurden, wenn ich nicht bald beendete, was sie verursachte. An einem Haken rechts neben dem Tor hing eine Kohlebogenlampe - wir benutzten hier moglichst keine Laterne mit offenem Feuer, vor allem nicht im Sommer, wenn der Heuboden vollgepackt und alle Maisspeicher bis obenhin gefullt waren.

Ich tastete nach dem Zundknopf und druckte ihn. Grelles blauwei?es Licht breitete sich ringformig aus. Anfangs war ich zu geblendet, um irgendetwas zu erkennen; ich konnte nur die Schmerzenslaute und die Hufschlage horen,

Ich schlupfte in meine Gummistiefel und trabte dann mit dem Gewehr unter dem Arm den Mittelgang entlang. Ich riss die Tur der Box auf und trat einen Schritt zur Seite. Achelois hei?t »die den Schmerz vertreibt«, aber nun hatte Achelois selbst Schmerzen. Als sie auf den Gang hinauspolterte, sah ich, dass ihre Hinterbeine blutverschmiert waren. Sie baumte sich auf wie ein Pferd (was mir bei einer Kuh noch nie untergekommen war), und als sie das tat, sah ich an einer ihrer Zitzen eine riesige Wanderratte hangen. Ihr Gewicht hatte den rosa Stummel zu einem straffen Knorpelschlauch gedehnt. Vor Uberraschung (und Entsetzen) gelahmt, musste ich daran denken, wie Henry als kleiner Junge manchmal Kaugummi wie ein Band aus dem Mund gezogen hatte. Lass das!, hatte Arlette ihn dann angefahren. Kein Mensch will sehen, worauf du rumgekaut hast.

Ich hob das Gewehr, lie? es aber gleich wieder sinken. Wie hatte ich schie?en konnen, wo die Ratte doch wie ein lebendes Pendel hin- und herschwang?

Drau?en auf dem Gang senkte Achelois den Kopf und wiegte ihn von einer Seite zur anderen, als brachte das irgendwas. Sobald sie wieder auf vier Beinen stand, konnte die Ratte unter ihr aufgerichtet auf dem mit einer dunnen Heuschicht bedeckten Stallboden stehen. Sie glich einem seltsam missgebildeten Welpen mit von Blut gefarbten Milchtropfen in den Schnurrbarthaaren. Ich sah mich nach etwas um, mit dem ich auf sie einschlagen konnte, aber bevor ich Ich habe in all den Jahren immer flei?ig Milch gegeben und dir nie Schwierigkeiten bereitet - im Gegensatz zu anderen, die ich benennen konnte -, wieso hast du also zugelassen, dass mir das passiert? Unter ihrem Euter sammelte sich Blut an und bildete eine kleine Lache. Sogar in meinem von Schock und Abscheu gepragten Zustand erkannte ich, dass diese Verletzung nicht todlich war, aber ihr Anblick - und der der Ratte mit der schuldlosen Zitze in der Schnauze - erfullte mich mit Zorn.

Trotzdem schoss ich nicht auf sie, teils weil ich Angst vor Feuer hatte, aber vor allem nicht, weil ich furchtete, ich konnte sie mit der Kohlebogenlampe in einer Hand verfehlen. Stattdessen schlug ich mit dem Gewehrkolben zu, um diesen Eindringling so zu erledigen, wie Henry den Uberlebenden aus dem Brunnen mit der Schaufel erschlagen hatte. Aber Henry war ein Junge mit guten Reflexen, und ich war ein Mann in mittleren Jahren, der aus tiefem Schlaf geweckt worden war. Die Ratte wich meinem Schlag muhelos aus und trippelte den Mittelgang hinunter. Die abgebissene Zitze wippte in ihrer Schnauze auf und ab, und ich erkannte, dass die Ratte sie auffra? - warm und bestimmt voller Milch -, wahrend sie weglief. Ich jagte hinter ihr her und schlug noch zweimal nach ihr, verfehlte aber beide Male. Dann sah ich, wohin sie lief: zu dem Leitungsrohr, das in den ehemaligen Trankbrunnen hinunterfuhrte. Naturlich! ihr begraben.

Aber diese Bestie ist bestimmt zu gro? fur das Rohr, dachte ich. Sie muss von au?erhalb kommen - vielleicht aus einem Nest im Misthaufen.

Sie sprang zur Offnung hinauf, wobei ihr Korper sich auf hochst erstaunliche Weise verlangerte. Ich schwang das Gewehr ein letztes Mal und zerschmetterte den Kolben am Rand des Eisenrohrs. Die Ratte verfehlte ich ganz. Als ich mit der Kohlebogenlampe ins Rohr hineinleuchtete, sah ich gerade noch undeutlich ihren haarlosen Schwanz im Dunkel verschwinden und horte ihre kleinen Krallen auf dem verzinkten Metall kratzen. Dann war sie weg. Mein Herz hammerte so stark, dass mir wei?e Punkte vor den Augen tanzten. Ich holte tief Luft, aber sie war so mit dem Gestank von Zersetzung und Verwesung geschwangert, dass ich mit zugehaltener Nase zurucksank. Das Bedurfnis, zu schreien, wurde durch das Bedurfnis erstickt, mich zu ubergeben. Am anderen Ende des Rohrs konnte ich namlich deutlich Arlette sehen, deren sich verflussigendes Fleisch jetzt von Kafern und Maden wimmelte; ich konnte sehen, wie ihr Gesicht vom Schadel zu tropfen begann, wie das Grinsen ihrer Lippen dem langer andauernden Knochengrinsen darunter wich.

Ich kroch auf allen vieren ruckwarts von diesem schrecklichen Rohr fort, verspruhte Erbrochenes erst nach links, dann nach rechts, und nachdem ich mein ganzes Abendessen von mir gegeben hatte, wurgte ich noch lange Strange Gallenflussigkeit hoch. Mit wassrigen Augen sah ich, dass Achelois in ihre Box zuruckgegangen war. Das war gut. Wenigstens wurde ich sie nicht durch den Mais verfolgen, ihr ein Halfter anlegen und sie in den Stall zuruckfuhren mussen.

Als Erstes wollte ich das Rohr verstopfen - das wollte ich als Allererstes tun -, aber als mein Magen sich beruhigt hatte, konnte ich wieder klarer denken. Achelois hatte Vorrang. Sie war eine gute Milchkuh. Und vor allem war ich fur sie verantwortlich. In dem kleinen Nebenraum, wo ich die Bucher fuhrte, hing ein Medizinschrankchen, in dem ich eine gro?e Buchse Rawleigh Antiseptic Salve fand. In einer Ecke lag ein kleiner Stapel Putztucher. Mit der Salbe und den meisten Putzlappen ging ich zu Achelois’ Box zuruck, wo ich sofort die Tur schloss, um die Gefahr zu verringern, getreten zu werden (ohne sie naturlich ganz ausschalten zu konnen). Dann erst setzte ich mich auf den Melkschemel. Ich glaube, dass ich damals irgendwie fand, ich hatte es verdient, getreten zu werden. Aber die gute alte Achelois beruhigte sich, als ich ihr die Flanke tatschelte und »braves Madchen, brav, so ist’s brav« flusterte. Obwohl sie zitterte, als ich ihr verletztes Euter mit der Salbe bestrich, hielt sie still.

Nachdem ich alles mir Mogliche getan hatte, um eine Infektion zu verhindern, machte ich mich mit den Putzlumpen daran, das Erbrochene aufzuwischen. Gute Arbeit zu leisten war wichtig, denn wie jeder Farmer bestatigen kann, wird Raubwild von Erbrochenem ebenso stark angezogen wie von einer unsorgfaltig abgedeckten Mullgrube. Waschbaren und Waldmurmeltiere, versteht sich, aber vor allem Ratten. Ratten haben eine Vorliebe fur das, was Menschen von sich geben.

Ich hatte ein paar Putzlappen ubrig, aber diese ehemaligen Geschirrtucher aus Arlettes Kuche waren fur mein nachstes Vorhaben zu klein. Ich nahm die Sichel von ihrem Haken, ging mit der Lampe zum Holzstapel hinaus und hackte ein ausgefranstes Quadrat aus dem schweren Segeltuch, mit dem er abgedeckt war. Im Stall buckte ich mich und hielt die Lampe dicht an die Rohroffnung, weil ich sichergehen einziger Durchgang -, und sie wurden ihn so lange sauber halten, wie sie ihr Geschaft noch drau?en erledigen konnten.

Ich stopfte das Segeltuch ins Rohr. Es war so steif und sperrig, dass ich zuletzt den Besenstiel benutzen musste, um es ganz hineinzustopfen, aber ich schaffte es. »Da!«, sagte ich. »Mal sehen, wie euch das gefallt. Erstickt daran!«

Ich ging zuruck, um noch einmal nach Achelois zu sehen. Sie stand still da, und als ich ihre Flanke tatschelte, bedachte sie mich mit einem milden Blick uber die Schulter. Ich wusste damals wie heute, dass sie blo? eine Kuh war - Farmer hegen nur wenige romantische Vorstellungen von der Natur, werden Sie feststellen -, aber trotzdem lie? dieser Blick mir die Tranen in die Augen steigen, und ich musste ein Schluchzen unterdrucken. Ich wei?, dass du dein Bestes getan hast, besagte der Blick. Ich wei?, dass das alles nicht deine Schuld ist.

Aber es war meine.

Ich ging ins Haus zuruck und schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang. Hinter seiner geschlossenen Tur konnte ich Henry schnarchen horen. Ich rechnete damit, lange nicht einschlafen zu konnen, und wenn ich endlich schlief, wurde ich von der Ratte traumen, die mit der rosigen Zitze in der Schnauze durchs Heu auf dem Stallboden zu ihrem Notausgang flitzte, aber ich schlief fast augenblicklich ein, und mein Schlaf war traumlos und erholsam zugleich. Als ich aufwachte, uberflutete das Morgenlicht den Raum, und ich hatte den Verwesungsgeruch der Leiche meiner Frau dick

Ich erwartete, dass der Rattenbiss sich trotz der Salbe entzunden wurde, was aber nicht der Fall war.

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