Achelois sollte spater in jenem Jahr verenden, aber nicht deshalb. Sie gab jedoch nie mehr Milch; keinen einzigen Tropfen. Ich hatte sie schlachten lassen sollen, aber das brachte ich nicht ubers Herz. Sie hatte durch meine Schuld zu viel durchleiden mussen.
Am nachsten Tag gab ich Henry eine Einkaufsliste und wies ihn an, mit dem Lastwagen nach Hemingford Home zu fahren und die aufgeschriebenen Sachen zu holen. Auf seinem Gesicht erschien ein verblufftes breites Grinsen.
»Mit dem Lastwagen?
»Du kennst immer noch alle Vorwartsgange? Und kannst immer noch den Ruckwartsgang finden?«
»Klar doch, Mann!«
»Dann bist du schon so weit, finde ich. Vielleicht noch nicht fur Omaha - oder auch nur Lincoln -, aber wenn du langsam fahrst, musstest du in Hemingford Home gut zurechtkommen.«
»Danke!« Er umarmte mich uberschwanglich und kusste mich auf die Wange. Einen Augenblick lang schienen wir wieder Freunde zu sein. Ich lie? mich das sogar ein wenig glauben, obwohl ich es im Innersten besser wusste. Wir hatten jetzt etwas zwischen uns. Der Beweis mochte unter der Erde liegen, aber zwischen uns stand die Wahrheit - jetzt und fur alle Zeiten.
Ich gab ihm eine lederne Geldborse. »Die hat deinem Gro?vater gehort. Am besten behaltst du sie gleich ganz; ich wollte sie dir ohnehin im Herbst zum Geburtstag schenken. Sollte etwas von dem Geld darin ubrig bleiben, kannst du’s behalten.« Beinahe hatte ich hinzugefugt:
Er setzte dazu an, mir nochmals zu danken, schaffte es aber nicht. Es war wohl alles einfach zu viel.
»Auf der Ruckfahrt machst du bei Lars Olsens Schmiede halt, um zu tanken. Vergiss das nicht, sonst bist du zu Fu? statt hinter dem Lenkrad, wenn du heimkommst.«
»Ich denke daran. Und, Papa?«
»Ja.«
Er trat von einem Fu? auf den anderen und sah mich dann schuchtern an. »Kann ich bei den Cotteries vorbeifahren und Shan fragen, ob sie mitkommen mag?«
»Nein«, sagte ich, und er machte schon ein langes Gesicht, bevor ich hinzufugte: »Du fragst Sallie oder Harlan, ob Shan mitkommen darf. Und erzahl ihnen unbedingt, dass du zum ersten Mal allein in die Stadt fahrst. Ich verlasse mich auf dein Ehrenwort, Sohn.«
Als ob wir beide noch eine Ehre gehabt hatten.
Ich stand am Tor und beobachtete, wie unser alter Lastwagen in einer Staubwolke verschwand. Mir steckte ein Klo? in der Kehle, den ich nicht hinunterschlucken konnte. Ich hatte die uberaus starke, wenngleich torichte Vorahnung, dass ich ihn nie wiedersehen wurde. So empfinden vermutlich die meisten Eltern, wenn sie ein Kind allein fortgehen oder wegfahren sehen und dabei erkennen, dass ein Kind, das alt genug ist, um Auftrage selbststandig auszufuhren, eigentlich kein Kind mehr ist. Aber ich durfte mich nicht zu
Als Erstes sah ich nach Achelois, die zwar matt, aber nicht ernstlich krank wirkte. Dann kontrollierte ich das Eisenrohr. Es war weiter blockiert, aber ich machte mir keine Illusionen; es wurde einige Zeit dauern, aber letztlich wurden die Ratten sich durch das Segeltuch nagen. Ich musste bessere Arbeit leisten. Ich schleppte einen Sack Portlandzement zum Brunnen hinter dem Haus und ruhrte ihn in einem alten Eimer an. Wahrend ich im Stall darauf wartete, dass der Mortel dicker wurde, stopfte ich das Segeltuch tiefer ins Rohr hinein. Auf diese Weise machte ich gut einen halben Meter frei, den ich anschlie?end mit dem Mortel verschloss. Bis Henry zuruckkam (und das in bester Laune; er hatte Shannon tatsachlich mitgenommen, und das Wechselgeld hatte fur das Eiscremesoda gereicht, das sie sich geteilt hatten), hatte er abgebunden. Vermutlich waren einige wenige Ratten auf Nahrungssuche au?erhalb unterwegs gewesen, aber ich bezweifelte nicht, dass ich die meisten - auch die eine, die die arme Achelois verstummelt hatte - dort unten im Dunkel eingemauert hatte. Und dort unten im Dunkel wurden sie verenden. Wenn sie nicht erstickten, dann wurden sie verhungern, sobald ihr entsetzlicher Nahrungsvorrat erschopft war.
Das glaubte ich zumindest.
In den Jahren zwischen 1916 und 1922 ging es in Nebraska selbst dummen Farmern gut. Harlan Cotterie, der keineswegs dumm war (und nur drei Mauler zu stopfen hatte), war erfolgreicher als die meisten, wie seine Farm eindrucksvoll
Es war gegen Ende September, als die Maisernte nach einem harten Jahr Arbeit bereits eingebracht war, wahrend es im Garten noch viel zu ernten gab. Als Shannon an einem Samstagnachmittag unter der Dusche stand, kam ihre Mutter mit einem Armvoll Wasche, die sie vorzeitig von der Leine genommen hatte, weil es nach Regen aussah, den ruckwartigen Flur entlang. Shannon glaubte vermutlich, sie hatte die Badezimmertur ganz zugemacht - die meisten Frauen wollen bei der Korperpflege im Bad allein sein, und als der Sommer 1922 in den Herbst uberging, hatte Shannon Cotterie dazu noch einen speziellen Grund -, aber vielleicht war sie aufgesprungen und stand halb offen. Ihre Mutter sah zufallig hinein, und obwohl das alte Laken, das jetzt als Duschvorhang diente, ganz um die U-formige Schiene herumgezogen war, hatte der Wasserstaub es durchscheinend
Zwei Tage spater kam Henry aus der Schule nach Hause (er fuhr jetzt mit dem Lastwagen dorthin) und wirkte angstlich und schuldbewusst. »Shan fehlt seit zwei Tagen«, sagte er, »also bin ich bei den Cotteries vorbeigefahren, um mich nach ihr zu erkundigen. Ich dachte, sie hatte vielleicht die Spanische Grippe. Sie haben mich nicht mal reingelassen. Mrs. Cotterie hat mich nur aufgefordert, weiterzufahren, und gesagt, dass ihr Mann heute Abend nach der Arbeit vorbeikommen will, um mit dir zu reden. Ich hab gefragt, ob ich etwas ausrichten kann, und sie hat gesagt: ›Du hast schon genug ausgerichtet, Henry.‹«
Jetzt fiel mir auch ein, was Shan bei der Maisernte zu mir gesagt hatte. Henry verbarg sein Gesicht in den Handen und sagte: »Sie ist schwanger, Papa, und sie haben es rausgekriegt. Ich wei?, dass es darum geht. Wir wollen heiraten, aber ich furchte, dass sie uns nicht lassen.«
»Vergiss ihre Eltern«, sagte ich. »
Er sah mit verwundetem Blick aus tranennassen Augen zu mir auf. »Warum nicht?«
»Aber wir lieben uns!«
O dieser idiotische Ausruf! Diese jammernde Klage eines Schwachlings. Ich hatte die Hande an den Seitennahten meiner Latzhose zu Fausten geballt und musste mich dazu zwingen, sie zu offnen. Zornig zu werden ware zwecklos
»Das wei? ich, Henry …«
»
Fruher hatten sie das getan; seit das neue Jahrhundert begonnen und die Pionierzeit sich dem Ende zugeneigt hatte, allerdings nicht mehr so oft. Aber das sagte ich ihm nicht. Stattdessen erklarte ich ihm, dass ich kein Geld fur eine Starthilfe fur sie hatte. Vielleicht 1925, wenn die Ernten und Preise gut blieben, aber vorlaufig konne ich nichts fur sie tun. Und weil nun ein Baby unterwegs sei …
»An sich
Anfangs war ich zu betroffen, um darauf zu antworten. Seit wir Arlette namentlich - oder auch nur angedeutet mit dem Furwort
Er starrte mich trotzig an. Und dann sah ich in weiter Ferne auf unserer Stichstra?e eine wogende Staubwolke naher kommen. Harlan Cotterie war unterwegs. Ich hatte ihn immer fur meinen Freund gehalten, aber eine Tochter, die sich als schwanger erweist, kann solche Dinge andern.
»Nein, sie hatte nicht so mit dir geredet«, stimmte ich Henry zu und zwang mich dazu, ihm offen ins Gesicht