»Das ist kein Grab fur eine Mam… ma…« Mehr brachte er nicht heraus, bevor er ohnmachtig in das hinter dem Stall wuchernde Gestrupp sank. Plotzlich musste ich das ganze Gewicht meiner ermordeten Frau allein tragen. Ich uberlegte kurz, ob ich das groteske Bundel so lange ablegen sollte - die Stofflagen waren verrutscht, und die zerschnittene Hand schaute heraus -, bis ich Henry wiederbelebt hatte. Wahrscheinlich war es barmherziger, ihn liegen zu lassen. Also schleifte ich sie allein an den Brunnenrand, legte sie ab und stemmte den Holzdeckel hoch. Als ich ihn an zwei Zaunlatten lehnte, atmete der Brunnen mir ins Gesicht: ein Pesthauch aus stehendem Wasser und verfaulendem Unkraut. Ich kampfte gegen einen Brechreiz an und verlor. An zwei weitere Latten geklammert, um das Gleichgewicht zu halten, knickte ich den Oberkorper ab und gab mein Abendessen von mir und den wenigen Wein, den ich getrunken hatte. Vom schlammigen Wasser der Brunnensohle echote ein Platschen herauf. Wie der Gedanke Ride’em, Cowboy ist dieses Platschen in den vergangenen acht Jahren stets in Reichweite meiner Erinnerung geblieben. Ich wache mitten in der Nacht mit dem Echo im Kopf auf und spure, wie sich mir die Splitter der Holzlatten in die Handflachen bohren, wahrend ich sie umklammere, als ginge es um mein Leben.

Ich wich vom Brunnenrand zuruck, fiel uber das Bundel, das Arlette enthielt, und landete neben ihr. Die zerschnittene Hand hatte ich dicht vor Augen. Ich schob sie in den Quilt zuruck und tatschelte sie dann, als wollte ich Arlette trosten. Henry lag weiterhin mit dem Kopf auf einem Arm gebettet im Gestrupp. Er sah wie ein Kind aus, das nach einem anstrengenden Erntetag schlaft. Uber uns glitzerten die Sterne zu Tausenden und Abertausenden. Ich konnte Diese Nacht wird niemals enden. Und das stimmte. In gewisser Hinsicht hat sie das niemals getan.

Als ich das Bundel mit den Armen hochhob, zuckte es.

Ich erstarrte und hielt trotz meines hammernden Herzens den Atem an. Das hast du gar nicht gespurt, dachte ich. Ich wartete, ob es sich wiederholte. Oder ob ihre Hand sich vielleicht aus dem Quilt stahl, um mit den zerschnittenen Fingern mein Handgelenk zu umklammern.

Es passierte jedoch nichts mehr. Ich hatte mir alles nur eingebildet. Bestimmt hatte ich das. Also kippte ich sie in den Brunnen. Ich sah, wie der Quilt an dem nicht vom Kissenbezug zusammengehaltenen Ende aufging, und dann kam das Platschen. Ein viel lauteres Platschen, als es mein Erbrochenes gemacht hatte, aber zugleich auch ein quatschender Aufprall. Ich hatte gewusst, dass das Wasser dort unten nicht tief war, aber gehofft, es wurde tief genug sein, um sie zu bedecken. Dieser Aufprall sagte mir, dass das nicht der Fall war.

Hinter mir setzte ein hohes, sirenenartig schrilles Lachen ein: dem Wahnsinn so nahe, dass mir ein eisiger Schauder eine Gansehaut uber den Rucken laufen lie?. Henry war zu sich gekommen und hatte sich aufgerappelt. Nein, viel mehr als nur das. Er hupfte hinter dem Kuhstall umher, schwenkte die Arme unter dem Sternenhimmel und lachte dabei.

»Mama drunten im Brunnen, und mir ist’s egal!«, lautete sein Singsang. »Mama drunten im Brunnen, und mir ist’s egal, denn mein Meister ist fo-oort

Ich war mit drei Schritten bei ihm, schlug ihm mit voller Wucht ins Gesicht und hinterlie? blutige Fingerabdrucke

Rex bellte einmal, zweimal, dreimal. Danach Stille. Wir standen da, wobei ich Henrys Schultern umklammerte und den Kopf leicht geneigt hielt. Der Schwei? lief mir ins Genick. Rex blaffte noch einmal, dann lie? er es bleiben. Falls einer der Cotteries davon aufgeschreckt worden war, wurde er glauben, dass es einem Waschbaren gegolten hatte. Das hoffte ich zumindest.

»Geh ins Haus«, sagte ich. »Das Schlimmste ist uberstanden.«

»Wirklich, Papa?« Er sah mich ernst an. »Ist es das?«

»Ja. Alles in Ordnung mit dir? Wirst du noch mal ohnmachtig?«

»War ich das?«

»Ja.«

»Mir fehlt nichts. Ich bin nur … Ich wei? nicht, warum ich so gelacht habe. Ich war durcheinander. Wahrscheinlich aus Erleichterung. Es ist vorbei!« Ein Kichern entkam ihm, und er schlug sich wie ein kleiner Junge, der vor seiner Gro?mutter versehentlich ein schlimmes Wort gebraucht hat, beide Hande vor den Mund.

»Ja«, sagte ich. »Es ist vorbei. Wir bleiben hier. Deine Mutter ist nach St. Louis weggelaufen … vielleicht war es auch Chicago … aber wir bleiben hier.«

»Sie …?« Sein Blick irrlichterte zum Brunnen mit dem Holzdeckel hinuber, der von zwei Latten gestutzt wurde, die im Sternenschein irgendwie trostlos grausig wirkten.

»Ja, Hank, das ist sie.« Seine Mutter hasste es, wenn ich ihn Hank nannte, weil es ihrer Meinung nach ordinar war, aber jetzt konnte sie nichts mehr dagegen machen. »Hat uns einfach sitzenlassen. Das tut uns naturlich leid, aber

»Und ich kann weiter … mit Shannon befreundet bleiben?«

»Naturlich«, sagte ich. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder, wie Arlettes Mittelfinger seinen lusternen Kreis um ihren Schritt steppte. »Naturlich kannst du das. Aber solltest du jemals den Drang verspuren, Shannon alles zu gestehen…«

Auf seinem Gesicht erschien ein entsetzter Ausdruck. »Niemals!«

»Das glaubst du jetzt, und ich bin froh daruber. Aber solltest du ihn eines Tages doch verspuren, musst du eines wissen: Sie wurde davonlaufen.«

»Klar wurde sie das«, murmelte er.

»Geh jetzt ins Haus, und hol die beiden Wascheimer aus der Speisekammer. Am besten auch ein paar Milcheimer aus dem Stall. Full sie an der Kuchenpumpe, und schaum das Wasser mit dem Zeug auf, das sie in der Kuche unter dem Ausguss hat.«

»Soll ich das Wasser hei? machen?«

Ich horte meine Mutter sagen: Fur Blut immer kaltes Wasser, Wilf. Denk daran.

»Nicht notig«, sagte ich. »Ich komme nach, sobald ich den Deckel wieder geschlossen habe.«

Er wollte sich schon abwenden, packte mich aber stattdessen am Arm. Seine Hande waren erschreckend kalt. »Das darf nie jemand erfahren!«, flusterte er mir heiser ins Gesicht. »Was wir getan haben, darf nie jemand erfahren!«

»Das erfahrt auch niemand«, sagte ich, was weit kuhner klang, als mir zumute war. Einiges war schon fehlgeschlagen, und ich erkannte allmahlich, dass eine Tat etwas ganz anderes war, als sie nur zu ertraumen.

»Sie kommt nicht zuruck, stimmt’s?«

»Was?«

»Sie wird uns doch in Ruhe lassen, oder?« Nur sprach er lassen auf jene landliche Weise aus, bei der Arlette den Kopf geschuttelt und die Augen verdreht hatte. Erst jetzt, acht Jahre spater, fallt mir auf, wie sehr lassen wie hassen klingt.

»Ja«, sagte ich.

Aber ich irrte mich.

Ich sah in den Brunnen, und obwohl er nur 7 Meter tief war, konnte ich in jener Neumondnacht nur den blassen Fleck des Quilts ausmachen. Vielleicht war es auch der Kissenbezug. Ich schloss den Deckel wieder, ruckte ihn etwas zurecht und ging dann ins Haus zuruck. Ich versuchte, den gleichen Weg zu gehen, den wir mit unserem schrecklichen Bundel zuruckgelegt hatten, und schlurfte absichtlich, um etwaige Blutspuren zu verwischen. Morgen fruh wurde ich bessere Arbeit leisten.

In jener Nacht fand ich etwas heraus, was die meisten Leute nie erfahren werden: Mord ist Sunde, Mord ist Verdammnis (ganz bestimmt fur Geist und Verstand des Taters, selbst wenn die Atheisten recht haben und es kein Leben nach dem Tod gibt), aber Mord ist auch Arbeit. Wir schrubbten das Schlafzimmer, bis uns der Rucken wehtat, dann machten wir mit dem Flur, dem Wohnzimmer und zuletzt der Veranda weiter. Immer wenn wir glaubten, fertig zu sein, fand einer von uns einen weiteren Blutfleck. Als im Osten der Tag heraufdammerte, war Henry im Schlafzimmer auf allen vieren, um die Ritzen zwischen den Fu?bodenbrettern zu saubern, und ich war im Wohnzimmer auf den Knien dabei, Arlettes Hakelteppich Quadrat fur Quadrat nach dem einen Tropfen Blut abzusuchen, der uns verraten konnte. Der Teppich war sauber - in diesem Punkt hatten wir Gluck gehabt -, aber neben ihm entdeckte ich einen fingernagelgro?en Blutfleck. Ich wischte ihn weg und

»Ich kann heute nicht in die Schule gehen, Papa. Ich bin zu mude. Und … ich glaube, dass die Leute es auf meinem Gesicht sehen wurden. Vor allem Shannon.«

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