zu fragen, welche Art Atmung bewirken konnte, dass das Kleid einer Frau sich nicht nur am Busen, sondern vom Ausschnitt bis zum Saum hob und senkte -, begann ihr Unterkiefer sich zu bewegen, als muhte sie sich verzweifelt ab, etwas zu sagen. Es waren jedoch keine Worter, die aus ihrem grausig vergro?erten Mund kamen, vielmehr war es eine Ratte, die sich an ihrer Zunge gutlich getan hatte. Zuerst erschien ihr Schwanz. Dann klappte der Unterkiefer weiter auf, und das Tier schob sich ruckwarts heraus, wobei es die Krallen der Hinterfu?e in Arlettes Kinn grub, um mehr Halt zu haben.

Die Ratte plumpste in ihren Scho?, worauf eine gro?e Flut ihrer Bruder und Schwestern unter dem Kleid hervorstromte. Eines der Tiere hatte etwas Wei?es in den Schnurrbarthaaren - einen kleinen Fetzen von ihrem Schlupfer, vielleicht auch ihrem Bustenhalter. Ich warf den Koffer nach ihnen. Ich dachte nicht lange daruber nach - mein Verstand toste vor Abscheu und Entsetzen -, sondern tat es einfach. Er landete auf ihren Beinen. Die meisten Nager - moglicherweise alle - wichen ihm muhelos aus. Dann stromten sie in ein rundes schwarzes Loch zuruck, das die Matratze (die sie allein durch ihr Gewicht zur Seite geschoben haben mussten) verdeckt hatte, und waren im Nu verschwunden. Ich wusste recht gut, was dieses Loch war: die Offnung der Rohrleitung, die unsere Viehtranken im Stall mit Wasser versorgt hatte, bis das Sinken des Wasserspiegels sie nutzlos gemacht hatte.

Ihr Kleid fiel um sie herum zusammen. Die vermeintliche Atmung horte auf. Aber sie starrte mich an, und was mir anfangs wie ein Clownsgrinsen vorgekommen war, erschien mir jetzt wie ein finsterer Medusenblick. Ich konnte Rattenbisse an den Wangen sehen, und es fehlte eines der Ohrlappchen.

»Du lieber Gott«, flusterte ich. »Arlette, es tut mir so leid.«

Deine Entschuldigung wird nicht angenommen, schien ihr Starren zu sagen. Und wenn ich so aufgefunden werde, mit Rattenbissen im toten Gesicht und der unter dem Kleid weggefressenen Unterwasche, kommst du garantiert druben in Lincoln auf den Stuhl. Und als Letztes wirst du mein Gesicht sehen. Du wirst mich sehen, wenn dir der Starkstrom die Leber brat und das Herz in Brand setzt, und ich werde grinsen.

Ich lie? den Deckel herunter und stolperte bis zur Stallwand, wo meine Knie nachgaben. Ware ich in der Sonne gewesen, ware ich bestimmt wie Henry in der Nacht zuvor

Ich ging zum Haus zuruck und hatte die Verandatreppe erreicht, bevor ein Gedanke mich ruckartig stehen bleiben lie?: Was war mit dem Zucken? Was war, wenn sie noch gelebt hatte, als ich sie in den Brunnen geworfen hatte? Was war, wenn sie noch immer gelebt hatte, gelahmt und au?erstande, auch nur einen ihrer zerschnittenen Finger zu bewegen, als die Ratten aus dem Rohr kamen und mit ihren Verwustungen begannen? Was war, wenn sie die eine gespurt hatte, die in ihren praktischerweise vergro?erten Mund gekrochen war und angefangen hatte, ihre…?

»Nein«, flusterte ich. »Sie hat nichts gespurt, weil sie nicht gezuckt hat. Bestimmt nicht. Sie war tot, als ich sie reingeworfen habe.«

»Papa?«, rief Henry mit schlaftrunkener Stimme. »Bist du das, Paps?«

»Ja.«

»Mit wem redest du?«

»Niemand. Mit mir selbst.«

Ich ging hinein. Er sa? in Unterwasche am Kuchentisch, sah benommen und unglucklich aus. Sein Haar, das in widerspenstigen

»Ich wollte, wir hatten es nicht getan«, sagte er, als ich mich ihm gegenubersetzte.

»Was geschehen ist, lasst sich nicht ruckgangig machen«, sagte ich. »Wie oft habe ich dir das schon erklart, Junge?«

»Ungefahr eine Million Mal.« Er lie? einige Sekunden lang den Kopf hangen, dann sah er zu mir auf. Seine rot geranderten Augen waren blutunterlaufen. »Werden wir geschnappt? Mussen wir ins Gefangnis? Oder…«

»Nein. Ich habe einen Plan.«

»Du hattest einen Plan, dass sie keine Schmerzen haben sollte! Du siehst ja, wie der ausgegangen ist!«

Mich juckte es in der Hand, ihn dafur zu ohrfeigen, deshalb hielt ich sie mit der anderen fest. Jetzt war nicht der richtige Augenblick fur gegenseitige Vorwurfe. Au?erdem hatte er recht. Was schiefgegangen war, war alles meine Schuld. Bis auf die Ratten, dachte ich. Fur die kann ich nichts. Konnte ich doch. Naturlich konnte ich was dafur. Ware ich nicht gewesen, hatte Arlette jetzt am Herd gestanden, um das Abendessen zu kochen. Vermutlich hatte sie mir dauernd wegen der 70 Hektar zugesetzt, ware aber gesund und munter gewesen, statt im Brunnen zu liegen.

Die Ratten sind bestimmt schon wieder da, flusterte eine Stimme tief in meinem Kopf. Um weiter an ihr zu fressen. Erst verzehren sie die besten Stucke, die leckeren Stucke, die Delikatessen, und dann …

Henry griff uber den Tisch und beruhrte meine verkrampften Hande. Ich fuhr zusammen.

»Tut mir leid«, sagte er. »Wir sitzen im selben Boot.«

Ich liebte ihn dafur.

»Wir kommen zurecht, Hank; wenn wir einen kuhlen Kopf bewahren, kann uns nichts passieren. Hor mir jetzt zu.«

Er horte zu. Irgendwann begann er zu nicken. Als ich fertig war, stellte er eine Frage: Wann wurden wir den Brunnen zuschutten?

»Noch nicht«, sagte ich.

»Ist das nicht riskant?«

»Ja«, sagte ich.

Zwei Tage spater, als ich ungefahr eine Viertelmeile von der Farm entfernt ein Stuck Zaun ausbesserte, sah ich eine gro?e Staubwolke, die sich vom Highway Omaha-Lincoln her auf unserer Stra?e naherte. Wir wurden Besuch aus der Welt bekommen, der Arlette so unbedingt hatte angehoren wollen. Ich stapfte zum Haus zuruck, meinen Hammer durch eine Gurtelschlaufe gesteckt und mit umgebundener Zimmererschurze, in deren langer Tasche bei jedem Schritt die Nagel klirrten. Henry war nirgends zu sehen. Vielleicht war er zum Baden zur Quelle runtergegangen; vielleicht schlief er auch in seinem Zimmer.

Bis ich den Hof erreicht hatte und auf dem Hackklotz sa?, hatte ich das Fahrzeug erkannt, das die lange Staubfahne hinter sich herzog: Lars Olsens Red Baby, sein Lieferwagen. Lars war der Schmied von Hemingford Home und zugleich der Milchmann des Dorfs. Gegen Bezahlung fungierte er auch als eine Art Chauffeur, und in dieser Eigenschaft war er an diesem Juninachmittag unterwegs. Der Lieferwagen kam auf den Hof gerattert und trieb George und seinen kleinen Huhnerharem in die Flucht. Noch bevor der Motor sich ganz totgekeucht hatte, stieg auf der Beifahrerseite ein dicklicher Mann in einem wallenden grauen Staubmantel aus. Als er seine Schutzbrille abnahm, waren um die Augen gro?e (und komische) wei?e Kreise zu sehen.

»Wilfred James?«

»Zu Diensten«, sagte ich und stand auf. Ich fuhlte mich ganz ruhig. Weniger ruhig ware ich vermutlich gewesen, wenn er in dem County-Ford mit dem Stern auf der Seite herausgekommen ware. »Sie sind?«

»Andrew Lester«, sagte er. »Rechtsanwalt.«

Er streckte die Hand aus. Ich betrachtete sie.

»Bevor ich die schuttele, sollten Sie mir lieber sagen, wessen Anwalt Sie sind, Mr. Lester.«

»Gegenwartig bin ich als Anwalt fur die Farrington Livestock Company in Chicago, Omaha und Des Moines tatig.«

Ja, dachte ich, das bezweifle ich nicht. Aber ich mochte wetten, dass dein Name nicht einmal an der Tur steht. Die Bonzen in Omaha brauchen keine staubige Autofahrt auf sich zu nehmen, um sich ihr taglich Brot zu verdienen, nicht wahr? Die Bonzen legen die Fu?e auf den Schreibtisch, trinken Kaffee und bewundern die hubschen Fesseln ihrer Sekretarinnen.

»In diesem Fall, Sir«, sagte ich, »schlage ich vor, dass Sie die Hand einfach wegtun. Nichts fur ungut.«

Genau das tat er mit einem Anwaltslacheln. Schwei?bache zogen helle Linien uber seine Pausbacken, und sein Haar war von der Fahrt ganz zerzaust und verfilzt. Ich ging an ihm vorbei zu Lars hinuber, der eine Seite der Motorhaube hochgeklappt hatte und darunter an etwas herumfummelte. Er pfiff vor sich hin und schien frohlich wie ein Vogel auf einer Telegrafenleitung zu sein. Darum beneidete ich ihn. Ich hoffte, dass Henry und ich wieder frohliche Tage erleben wurden - auf einer so vielfaltigen Welt wie der unseren ist alles moglich -, aber das wurde

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