»Was Sie betrifft … Sie haben nicht vor, nach Hause zu fahren und sich in der Badewanne die Pulsadern aufzuschneiden? Oder die letzte Kugel zu benutzen?«

»Nein.« Tess dachte daran, wie su? die Nachtluft geduftet hatte, als sie mit dem kurzen Lauf des Lemon Squeezer im Mund in Big Drivers Pick-up gesessen hatte. »Nein, ich komme zurecht.«

»Dann wird’s Zeit, dass Sie gehen. Ich bleibe noch eine Weile hier sitzen.«

Tess erhob sich, setzte sich dann aber wieder auf die Bank. »Eines muss ich noch wissen. Sie machen sich freiwillig zu meiner Komplizin. Wieso tun Sie das fur eine Frau, die Sie nicht mal kennen? Der Sie nur einmal begegnet sind?«

»Weil meine Oma Ihre Bucher liebt und sehr enttauscht ware, wenn Sie wegen dreifachen Mordes hinter Gitter kamen - wurden Sie das glauben?«

»Kein bisschen«, sagte Tess.

Betsy schwieg eine Zeit lang. Sie griff nach ihrer Dose Dr. Brown’s und stellte sie dann wieder ab, ohne getrunken zu haben. »Es werden viele Frauen vergewaltigt, nicht wahr? Ich meine, Sie sind in dieser Beziehung nicht einzigartig, oder?«

Nein, Tess wusste naturlich, dass sie in dieser Beziehung nicht einzigartig war, aber dieses Wissen machte die Schmerzen und das Schamgefuhl nicht geringer. Es wurde auch ihre Nerven nicht beruhigen, wahrend sie auf das Ergebnis des Aids-Tests wartete, zu dem sie bald gehen wurde.

Betsy lachelte. Ihr Lacheln war weder hubsch anzusehen noch heiter. »Wahrend wir hier reden, werden auf der ganzen Welt Frauen vergewaltigt. Auch Madchen, von denen einige bestimmt Lieblingspluschtiere haben. Manche werden ermordet, und manche uberleben. Wie viele der Uberlebenden zeigen Ihrer Meinung nach ihre Vergewaltigung an?«

Tess zuckte mit den Achseln.

»Ich wei? es auch nicht«, sagte Betsy, »aber ich wei?, was die Statistik bei Verbrechensopfern sagt, weil ich danach gegoogelt habe. Sechzig Prozent aller Vergewaltigungen werden nicht angezeigt, hei?t es dort. Fast zwei Drittel! Ich glaube, dass dieser Prozentsatz zu niedrig ist, aber wer konnte das mit Sicherheit sagen? Au?er im Matheunterricht ist es schwierig, etwas Negatives zu beweisen. Eigentlich sogar unmoglich.«

»Wer hat Sie vergewaltigt?«, fragte Tess.

»Mein Stiefvater«, sagte Betsy. »Ich war damals zwolf. Er hat mir ein Buttermesser vors Gesicht gehalten, wahrend er es getan hat. Ich habe stillgehalten - ich hatte Angst -, aber es hat gezuckt, als er gekommen ist. Wahrscheinlich nicht absichtlich, aber wer wei? das schon?«

Betsy zog das untere Lid ihres linken Auges mit zwei Fingern der Linken herunter. Die rechte Hand hielt sie gewolbt darunter, und das Glasauge rollte glatt in die Handflache. Die leicht nach oben zeigende leere Augenhohle war schwach gerotet und schien uberrascht in die Welt hinauszustarren.

»Die Schmerzen waren … na ja, solche Schmerzen lassen sich unmoglich beschreiben, wirklich nicht. Mir ist es vorgekommen, als wurde die Welt untergehen. Und das viele Blut! Unmengen. Meine Mutter ist mit mir zum Arzt gegangen. Sie hat mir eingescharft, ihm zu erzahlen, ich ware auf Strumpfsocken durch die Kuche gelaufen und auf dem frisch gebohnerten Linoleum ausgerutscht. Ich ware unglucklich gesturzt und hatte mir das Auge an einer Schrankecke ausgeschlagen. Sie hat gesagt, der Arzt wurde allein mit mir reden wollen, aber sie verlasse sich auf mich. ›Ich wei?, dass er dir was Schlimmes angetan hat‹, hat sie gesagt, »aber wenn die Leute davon erfahren, machen sie mich dafur verantwortlich. Bitte, Schatz, tu mir diesen einen Gefallen, dann sorge ich dafur, dass dir nie wieder was Schlimmes passiert.‹ Also hab ich’s getan.«

»Und? Ist es wieder passiert?«

»Klar. Drei- oder viermal, das wei? ich nicht mehr genau. Und ich habe immer stillgehalten, weil ich nur noch ein Auge hatte, das ich fur die gute Sache hatte opfern konnen. Horen Sie, sind wir hier fertig oder nicht?«

Tess wollte sie umarmen, aber Betsy wich zuruck - wie ein Vampir, der ein Kruzifix sieht, dachte Tess.

»Tun Sie das nicht«, sagte Betsy.

»Aber …«

»Ich wei?, ich wei?, mucho Dank, Solidaritat, auf ewig Schwestern, bla-bla-bla. Ich mag nur nicht umarmt werden. Sind wir hier fertig oder nicht?«

»Wir sind fertig.«

»Und an Ihrer Stelle wurde ich den Revolver auf der Heimfahrt in den Fluss werfen. Haben Sie das Gestandnis verbrannt?«

»Ja. Klar doch.«

Betsy nickte. »Und ich losche die Nachricht, die Sie auf meinen Anrufbeantworter gesprochen haben.«

Tess ging davon. Sie sah sich dabei einmal um. Betsy Neal sa? noch auf der Bank. Sie hatte ihr Auge wieder eingesetzt.

48

Als sie in ihrem Expedition sa?, erkannte Tess, dass es eine extrem gute Idee sein konnte, die letzten Fahrten aus ihrem Navi zu loschen. Sie druckte den Einschaltknopf, und der Bildschirm leuchtete auf. Tom sagte: »Hallo, Tess. Wie ich sehe, machen wir einen Trip.«

Tess loschte die gespeicherten Routen, dann schaltete sie das Navi wieder aus. Sie machte eigentlich keinen Trip, sondern wollte nur nach Hause. Und sie traute sich zu, den Weg zuruck selbst zu finden.

FAIRE VERLANGERUNG

Streeter sah das Schild nur, weil er am Stra?enrand halten und spucken musste. Er spuckte jetzt oft und meistens ohne lange Vorwarnung - manchmal ein Anflug von Ubelkeit, manchmal ein kupfriger Geschmack hinten im Mund und manchmal gar nichts; nur wurg, und schon kam alles heraus, eine schone Bescherung. Das machte das Autofahren zu einem riskanten Vorhaben, aber trotzdem fuhr er jetzt viel, teils weil er im Spatherbst nicht mehr wurde fahren konnen und teils weil er uber vieles nachdenken musste. Nachdenken hatte er immer am besten am Steuer konnen.

Er war auf der Harris Avenue Extension unterwegs: einer breiten Durchfahrtsstra?e, die zwei Meilen weit den Derry County Airport entlang und zwischen den dort angesiedelten Firmen - hauptsachlich Motels und Lagerhauser - hindurchfuhrte. Auf dieser Verlangerung herrschte tagsuber lebhafter Verkehr, weil sie den Westen Derrys mit dem Osten verband und eine Flughafenzufahrt war, aber an diesem Abend war sie fast menschenleer. Streeter parkte auf dem Radweg, riss eine der durchsichtigen Plastikspucktuten von dem Stapel auf dem Beifahrersitz, hielt das Gesicht daruber und legte los. Sein Abendessen erschien nochmals. Allerdings nicht vor seinen Augen. Die hatte er namlich geschlossen. Wenn man einmal eine volle Spucktute gesehen hatte, kannte man sie alle.

Zu Beginn der Kotzphase hatte es noch keine Schmerzen gegeben. Dr. Henderson hatte ihn vorgewarnt, dass sich

Er hob den Kopf von dem Beutel, offnete das Handschuhfach, holte ein Stuck Bindedraht heraus und versiegelte sein Abendessen, bevor der ganze Wagen danach stank. Ein Blick nach rechts zeigte ihm glucklicherweise einen Abfallkorb mit einem frohlichen schlappohrigen Koter und der Mahnung DERRY DAWG SAGT: »TUT ABFALL HIN, WO ER HINGEHORT!« in Schablonenschrift auf der Au?enseite.

Streeter stieg aus, ging zu dem Abfallkorb hinuber und entsorgte den letzten Auswurf seines versagenden Korpers. Die Sommersonne ging rot uber dem ebenen (und gegenwartig verlassenen) Gelande des Flughafens unter, und der an seinen Hacken klebende Schatten war lang und grotesk dunn. Als ware er Streeters Korper vier Monate voraus, bereits voll von dem Krebs erfasst, der ihn bald bei lebendigem Leib auffressen wurde.

Er wollte zu seinem Wagen zuruckgehen, als er das Schild auf der anderen Stra?enseite sah. Zuerst glaubte er - wahrscheinlich weil seine Augen noch tranten -, es besage HAARVERLANGERUNG. Dann blinzelte er und sah, dass dort in Wirklichkeit FAIRE VERLANGERUNG stand. Und darunter in kleinerer Schrift: FAIRER PREIS.

Faire Verlangerung, fairer Preis. Das klang gut und irgendwie auch vernunftig.

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