selbst nachdem die toten Frauen in dem Durchlass unter der Stra?e aufgefunden worden waren?

Tess griff nach dem geliehenen Kugelschreiber und schrieb weiter.

… was Doreen Marquis vom Strickclub in jedem Roman mindestens einmal sagt: Morder ubersehen immer das Offenkundige. Doreen hat einmal auch eine Idee von Dorothy Sayers ubernommen, einem Morder eine geladene Waffe gelassen und ihn aufgefordert, den ehrenvollen Ausweg zu wahlen. Ich habe eine Waffe. Mein einziger naher Verwandter ist mein Bruder Mike. Er lebt in Taos, New Mexico. Ich vermute, dass er mich allein beerben wird. Das hangt von den juristischen Konsequenzen meiner Verbrechen ab. Wenn er Alleinerbe wird, bekommt er hoffentlich auch diesen Brief zu sehen, der

Das mit Big Driver - Alvin Strehlke - tut mir leid. Er war nicht der Mann, der mich vergewaltigt hat, und Doreen ist sich sicher, dass er auch die anderen Frauen nicht vergewaltigt und ermordet hat.

Doreen? Nein, sie. Doreen war nicht real. Aber Tess war zu mude, das nachtraglich zu andern. Und zum Teufel damit - sie war sowieso schon fast fertig.

Was Ramona und dieses Stuck Dreck nebenan betrifft, muss ich mich nicht entschuldigen. Sie sind tot besser dran als lebendig.

Ich naturlich auch.

Sie nahm sich die Zeit, den Text noch einmal zu uberfliegen, um zu sehen, ob sie etwas vergessen hatte. Das schien nicht der Fall zu sein, deshalb setzte sie ihren Namen darunter - ihr letztes Autogramm. Der Kugelschreiber war nach dem letzten Buchstaben aufgebraucht, und sie legte ihn weg.

»Wolltest du noch irgendwas sagen, Lester?«, fragte sie.

Nur der Wind antwortete - mit einer Bo, die das schabige kleine Haus in allen Fugen knarren lie?.

Sie kehrte ins Wohnzimmer zuruck. Sie setzte ihm die braune Mutze auf und steckte ihm den Ring an den Finger. So sollte er aufgefunden werden. Auf dem Fernseher stand ein gerahmtes Foto. Es zeigte Lester und seine Mutter mit umeinandergelegten Armen. Beide lachelten. Nur ein Junge und seine Mama. Sie betrachtete es einige Zeit, dann ging sie hinaus.

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Sie hatte das Gefuhl, zu dem verlassenen Geschaft, wo alles passiert war, zuruckfahren zu sollen, um dort zu tun, was noch getan werden musste. Sie konnte eine Zeit lang auf dem verunkrauteten Parkplatz stehen, zuhoren, wie der Wind das Blechschild ticken lie? (DU MAGST ES ES MAG DICH), und uber die Dinge nachdenken, an die Menschen in den letzten Augenblicken ihres Lebens dachten. In ihrem Fall wurde es wahrscheinlich Fritzy sein. Vermutlich wurde Patsy ihn bei sich aufnehmen, und das war in Ordnung. Katzen waren Uberlebenskunstler. Wer sie futterte, war ihnen ziemlich egal, solange ihr Fressnapf regelma?ig gefullt wurde.

Die Fahrt zu dem Geschaft wurde um diese Zeit nicht lange dauern, aber sie kam ihr trotzdem zu weit vor. Sie war sehr mude. Sie beschloss, sich in Al Strehlkes alten Pick-up zu setzen und es dort zu tun. Aber sie wollte ihr unter Schmerzen geschriebenes Gestandnis nicht mit ihrem Blut beflecken - das erschien ihr falsch, weil darin doch so viel Blutvergie?en geschildert wurde -, deshalb …

Sie nahm die Blatter von dem Blue-Horse-Block ins Wohnzimmer mit, wo weiter der Fernseher lief (jetzt verkaufte ein junger Mann, der wie ein Strafling aussah, einen Putzroboter fur Fu?boden), und lie? sie in Strehlkes Scho? fallen. »Heb sie fur mich auf, Les«, sagte sie.

»Kein Problem«, antwortete er. Sie bemerkte, dass ein Teil seines kranken Gehirns jetzt auf der Schulter seines ausgebleichten karierten Hemdes antrocknete. Das war in Ordnung.

Tess ging ins sturmische Dunkel hinaus und stieg langsam auf der linken Seite des Pick-ups ein. Das Kreischen der Angeln, als sie die Fahrertur schloss, klang eigenartig vertraut. Aber nein, von wegen eigenartig; hatte sie es nicht

Sie setzte die Mundung des kurzlaufigen Smith & Wesson an die Schlafe, dann zogerte sie. Ein Schuss dieser Art war nicht immer todlich. Sie wollte, dass ihr Geld misshandelten Frauen half, statt fur ihre Pflege aufgebraucht zu werden, wahrend sie Jahr um Jahr bewusstlos in einem Heim fur Komapatienten lag.

In den Mund, das war besser. Sicherer.

Der Revolverlauf schmeckte olig, und sie konnte spuren, wie die kleine Erhebung des Korns sich ihr in den Gaumen grub.

Ich habe ein gutes Leben gehabt - na ja, ein ziemlich gutes -, und obwohl ich zuletzt einen schrecklichen Fehler gemacht habe, wird er mir vielleicht nicht angelastet, falls es ein Leben nach diesem gibt.

Ah, aber der Nachtwind war so su?. Das waren auch die Dufte, die durch das halb geoffnete Fahrerfenster hereinwehten. Jammerschade, diese Welt zu verlassen, aber was blieb ihr anderes ubrig? Es wurde Zeit zu gehen.

Tess schloss die Augen, nahm Druckpunkt am Abzug … und in diesem Augenblick meldete Tom sich zu Wort. Seltsam, dass er das konnte, war Tom doch in ihrem Expedition, der fast eine Meile von hier entfernt vor Al Strehlkes Haus stand. Und die Stimme, die sie horte, war ganz anders als die, die sie gewohnlich fur Tom produzierte. Sie klang auch nicht wie ihre eigene Stimme. Wie denn auch? Schlie?lich hatte Tess einen Revolverlauf im Mund.

»Sie war nie eine sehr gute Detektivin, oder?«

»Wer? Doreen?«

Trotz allem war sie schockiert.

»Wer denn sonst, Tessa Jean? Und wie konnte sie eine gute sein? Sie entstammt deinem alten Ich. Hab ich recht?«

Tess vermutete, dass dem so war. Sie lie? die Waffe sinken, weil diese seltsame neue Stimme sie ablenkte. Sie kam aus ihrem Inneren, aber sie wusste ziemlich genau, dass sie diese Stimme noch nie gehort hatte. Wusste es ganz sicher.

»Doreen ist sich sicher, dass Big Driver diese anderen Frauen nicht vergewaltigt und ermordet hat. Hast du das nicht geschrieben?«

»Ich«, sagte Tess. »Ich bin mir dessen sicher. Das wollte ich schreiben. Ich war nur mude, das ist alles. Und habe vermutlich unter Schock gestanden.«

»Und du hast dich schuldig gefuhlt.«

»Ja, auch das.«

»Glaubst du, dass Leute, die sich schuldig fuhlen, logische Schlusse ziehen?«

Nein. Moglicherweise taten sie das nicht.

»Was versuchst du mir zu sagen?«

»Dass du nur einen Teil des Ratsels gelost hast. Bevor du es ganz losen konntest - du, nicht irgendeine mit Klischees um sich werfende alte Detektivin -, ist etwas zugegebenerma?en Bedauerliches passiert.«

»Etwas Bedauerliches? Nennst du das so?« Tess horte sich wie in weiter Ferne lachen. Irgendwo lie? der Wind ein loses Dachblech klappern. Es klang wie das 7Up-Schild auf der Veranda des verlassenen Geschafts.

»Wieso denkst du nicht selbst nach«, fragte der neue, fremdartige Tom (dessen Stimme immer weiblicher klang), »bevor du dich erschie?t? Aber nicht hier.«

»Wo sonst?«

Diese Frage beantwortete Tom nicht, aber das war auch nicht notig. Stattdessen sagte er: »Und nimm das gottverdammte Gestandnis mit.«

Tess stieg aus dem Pick-up und ging in Lester Strehlkes Haus zuruck. Dann stand sie in der Kuche des Toten und dachte nach. Das tat sie laut - und mit Toms Stimme (die immer mehr wie ihre eigene klang). Doreen schien sich verdruckt zu haben. Was eine Erleichterung war.

»Al Strehlkes Hausschlussel hangt bestimmt an dem Ring mit dem Zundschlussel«, sagte Tom, »aber in seinem Haus ist ein Hund. Den darfst du nicht vergessen.«

Nein, das ware schlecht gewesen. Tess offnete Lesters Kuhlschrank. Nach kurzer Suche fand sie ganz hinten im untersten Fach eine Packung Hackfleisch fur Hamburger. Sie benutzte eine Ausgabe von Onkel Henry’s, um sie doppelt einzupacken, dann ging sie ins Wohnzimmer zuruck. Sie nahm ihr Gestandnis von Strehlkes Scho?, tat es vorsichtig, war sich sehr bewusst, dass der Teil von ihm, der sie verletzt hatte - der Teil, der daran schuld war, dass heute Nacht drei Menschen umgekommen waren -, gleich unter diesen Blattern

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