Zeit (oder genug Verstand) hatte, um die Ironie zu begreifen, die darin lag, dass sein letztes Opfer ihn mit diesen Requisiten aufsuchte, verstand Tess sie recht gut.

Tess parkte an der Hintertur, stellte den Motor ab und stieg aus. Ihre Waffe hielt sie in der Rechten. Die Tur war nicht abgesperrt. Sie betrat einen Anbau, in dem es nach Bier und verdorbenen Lebensmitteln roch. Von der Decke hing an einer schmutzigen Litze eine nackte 60-Watt-Birne herab. Vor sich hatte Tess vier uberquellende Mulltonnen aus Kunststoff: 120-Liter-Tonnen, die es im Wal-Mart gab. Dahinter waren an der Wand des Anbaus mindestens funf Onkel Henry’s Tauschfuhrer gestapelt. Links sah sie eine weitere Tur, davor eine einzelne Stufe. Sie wurde in die Kuche fuhren. Diese Tur hatte keinen Knopf, sondern eine altmodische Klinke. Als Tess sie herunterdruckte und die Tur offnete, quietschten ungeolte Angeln. Noch vor einer Stunde hatte ein solches Quietschen sie schreckensbleich erstarren lassen. Jetzt storte es sie nicht im Geringsten. Sie hatte ihre Arbeit zu tun. Darauf lief die Sache letztlich hinaus, und es war eine Erleichterung, von all dem emotionalen Ballast befreit zu sein. Sie trat in den Dunst irgendeines fettigen Stucks Fleisch, das Little Driver sich zum Abendessen gebraten hatte. Sie konnte TV-Lachen vom Band horen. Irgendeine Sitcom. Seinfeld, glaubte sie.

»Was zum Teufel machst du hier?«, rief Lester Strehlke aus der Umgebung der Lachkonserve. »Hab blo? noch eineinhalb Biere, wenn du deswegen kommst. Die trink ich noch, dann geh ich ins Bett.« Sie folgte dem Klang seiner Stimme. »Hattst du angerufen, hatt ich dir die Fahrt ersparen k…«

Sie betrat den Raum. Er sah sie. Tess hatte nie daruber nachgedacht, wie Lester reagieren konnte, wenn sein letztes Opfer hier aufkreuzte: mit einem Revolver in der Hand und der Baseballmutze, die er selbst trug, wenn ihn das Jagdfieber packte, auf dem Kopf. Auch wenn sie es getan hatte, hatte sie seine extreme Reaktion nie vorhersehen konnen. Seine Kinnlade sackte herab, dann erstarrte das ganze Gesicht. Die Bierdose fiel ihm aus der Hand, landete in seinem Scho? und trankte seine vergilbten Boxershorts mit wei? schaumendem Bier.

Er sieht ein Gespenst, dachte sie, als sie auf ihn zutrat und die Waffe hob. Gut.

Sie hatte Zeit, festzustellen, dass es im Wohnzimmer, in dem zwar ein Junggesellenchaos herrschte, weder Schneekugeln TV Guide, das Heft mit Simon Cowell auf der Titelseite.

»Du bist tot«, flusterte er.

»Nein«, antwortete Tess. Sie setzte ihm die Mundung des Lemon Squeezer an die Schlafe. Er unternahm den schwachen Versuch, ihr Handgelenk zu packen, aber diese Bewegung war viel zu kraftlos, kam viel zu spat. »Das bist du

Sie druckte ab. Blut trat aus seinem Ohr, und der Kopf schnellte zur Seite. Er sah wie ein Mann aus, der verspannte Nackenmuskeln zu lockern versuchte. Im Fernsehen sagte George Costanza: »Ich war im Pool, ich war im Pool.« Das Publikum lachte.

41

Es war fast Mitternacht, und der Wind wehte sturmischer als zuvor. In Boen erzitterte Lester Strehlkes ganzes Haus, und Tess musste jedes Mal an das kleine Schweinchen denken, das sein Haus aus Stocken gebaut hatte.

Das kleine Schweinchen, das in diesem Haus hier gelebt hatte, wurde sich nie mehr Sorgen machen mussen, sein beschissenes Haus konnte weggeweht werden, denn es lag tot in seinem La-Z-Boy. Und er war ohnehin kein kleines Schweinchen, dachte Tess. Er war ein gro?er boser Wolf.

Sie sa? in der Kuche und schrieb auf einem schmuddeligen Blue-Horse-Schreibblock, den sie oben in Strehlkes Schlafzimmer gefunden hatte. Im ersten Stock gab es vier National Geographic getarnt war. Sie enthielt ein Knauel aus Damenslips. Ihr eigener Slip lag obenauf. Tess steckte ihn ein und ersetzte ihn nach Art einer Packratte durch die zwei Meter lange gelbe Bootsleine. Diese Leine in der Trophaentasche eines Morders und Vergewaltigers wurde niemanden uberraschen. Au?erdem wurde Tess sie nicht mehr brauchen.

»Tonto«, sagte der Lone Ranger, »unsere Arbeit hier ist getan.«

Was sie schrieb, wahrend nach Seinfeld Frasier kam und auf Frasier die Lokalnachrichten folgten (jemand aus Chicopee hatte in der Lotterie gewonnen, und jemand anders hatte sich beim Sturz von einem Baugerust das Ruckgrat gebrochen, was sich also irgendwie ausglich), war ein Gestandnis in Briefform. Als sie auf Seite funf anlangte, folgte auf die Lokalnachrichten ein scheinbar endloser Werbespot fur Almighty Cleanse. Eben sagte Danny Vierra: »Manche Amerikaner haben nur alle zwei, drei Tage Stuhlgang, und weil das seit Jahren so ist, halten sie es fur normal! Aber jeder Arzt, der etwas taugt, wird Ihnen sagen, dass es das nicht ist!«

Der Brief war AN DIE ZUSTANDIGEN BEHORDEN adressiert, und die ersten vier Seiten bestanden aus einem

Ich will keine Entschuldigungen dafur vorbringen, was ich getan habe. Auch kann ich nicht behaupten, bei meinen Taten geistig verwirrt gewesen zu sein. Ich war zornig, und ich habe einen Fehler gemacht. So einfach war das. Unter anderen Umstanden - unter weniger schrecklichen, meine ich - konnte ich vielleicht sagen: »Das war ein verstandlicher Fehler, weil die beiden sich fast wie Zwillinge ahnlich sehen.« Aber es liegen keine anderen Umstande vor.

Ich habe uber Wiedergutmachung nachgedacht, wahrend ich hier gesessen, diese Seiten geschrieben und auf seinen Fernseher und den ums Haus heulenden Wind gehorcht habe - nicht etwa weil ich auf Vergebung hoffe, sondern weil es mir falsch erscheint, etwas Boses zu tun, ohne wenigstens zu versuchen, es mit etwas Gutem auszugleichen. (Hier dachte Tess daran, wie der Lotteriegewinner und der Ruckgratverletzte sich ausgeglichen hatten, aber dieser Gedanke wurde schwierig auszudrucken sein, weil sie so mude war, und sie wusste ohnehin nicht, ob er stichhaltig war.) Ich habe daran gedacht, nach Afrika zu gehen und mit Aids-Opfern zu arbeiten. Ich habe daran gedacht, in New Orleans als Freiwillige in einem Obdachlosenheim oder einer Suppenkuche zu arbeiten. Ich habe daran gedacht, die knapp eine Million Dollar, die ich fur den Ruhestand zuruckgelegt

Aber dann habe ich an etwas gedacht, was Doreen Marquis vom Strickclub in jedem Roman mindestens einmal sagt …

Mindestens einmal in jedem Roman sagte Doreen: Morder ubersehen immer das Offenkundige. Darau f konnt ihr euch verlassen, meine Lieben. Und noch wahrend Tess von Wiedergutmachung schrieb, erkannte sie, dass es diese unmoglich geben wurde. Weil Doreen vollig recht hatte.

Tess hatte eine Mutze getragen, um keine Haare fur eine DNA-Analyse zu hinterlassen. Sie hatte Handschuhe getragen, die sie nie ausgezogen hatte - nicht einmal auf der Fahrt mit Al Strehlkes Pick-up. Es war noch nicht zu spat, dieses Gestandnis in Lesters Holzherd zu verbrennen, zu Bruder Alvins sehr viel hubscherem Haus zu fahren (aus Ziegeln statt aus Stocken), sich in ihren Expedition zu setzen und nach Connecticut zuruckzufahren. Sie konnte heimfahren, wo Fritzy auf sie wartete. Auf den ersten Blick schien es keine zu ihr fuhrende Spur zu geben, und die Polizei wurde vielleicht ein paar Tage brauchen, um auf sie zu kommen, aber irgendwann wurde sie unausweichlich auf sie kommen. Wahrend Tess sich auf forensische Maulwurfshaufen konzentriert hatte, hatte sie namlich den offenkundigen Berg ubersehen - genau wie die Morder in den Willow- Grove-Krimis.

Der offenkundige Berg hatte einen Namen: Betsy Neal. Eine aparte Frau mit ovalem Gesicht, leicht unterschiedlichen Picasso-Augen und einer Wolke aus schwarzem Haar. Sie hatte Tess erkannt und sich sogar ein Autogramm geben lassen, aber das wurde nicht entscheidend sein. Den Ausschlag Hoffentlich ist das nicht hier passiert, hatte Neal gesagt) und die Tatsache geben, dass sie nach Alvin Strehlke gefragt, seinen Pick-up beschrieben und den Ring erkannt hatte, als Neal ihn erwahnt hatte. Wie ein Rubin, hatte Tess zugestimmt.

Neal wurde die Story im Fernsehen sehen oder in der Zeitung lesen - wie lie? sich das bei drei Toten aus einer Familie vermeiden? - und zur Polizei gehen. Die Polizei wurde zu Tess kommen. Sie wurde routinema?ig das Waffenregister fur Connecticut eingesehen und festgestellt haben, dass Tess einen jener als Lemon Squeezer bekannten Smith & Wesson Kaliber.38 besa?. Sie wurde den Revolver verlangen, um nach Probeschussen ballistische Vergleiche mit den in den drei Mordopfern aufgefundenen Geschossen anstellen zu konnen. Und was wurde Tess sagen? Wurde sie die Beamten mit zwei Veilchen ansehen und mit nach wie vor heiserer Stimme (weil Lester Strehlke sie gewurgt hatte) behaupten, sie habe ihn verloren? Wurde sie bei dieser Story bleiben,

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