»Weshalb sollte er das tun?«, fragte Tess den Toten. »Du bist sein
»Weil er verruckt ist«, sagte Big Driver geduldig.
»Und weil das schon fruher funktioniert hat«, sagte Doreen Marquis. »Als sie noch junger waren und Lester Schwierigkeiten mit der Polizei hatte. Die Frage ist, ob Roscoe Strehlke wegen dieser ersten Sache Selbstmord verubt hat - oder weil Ramona den gro?en Bruder dazu gezwungen hat, die Schuld auf sich zu nehmen. Vielleicht
Zu diesem Thema schwieg Al jedoch. Wie ein Grab.
»Ich will Ihnen sagen, was meiner Meinung nach passiert ist«, sagte Doreen im Mondschein. »Ich glaube, dass Ramona wusste, dass Ihr kleiner Bruder, wenn er im Vernehmungsraum an einen halbwegs cleveren Polizeibeamten geriete, etwas gestehen konnte, das weit schlimmer ware, als im Schulbus ein Madchen zu befummeln, im ortlichen Seufzergasschen Liebespaare zu beobachten oder welche Bagatellstraftat man ihm sonst anlasten wollte. Ich glaube, sie hat
Al sagte nichts.
Tess dachte:
Trotzdem wusste ein Teil von ihr, dass sie versuchte, bei Verstand zu
Und:
Es war ein Fehler, das stimmte. Alles, was sie in dieser Nacht getan hatte, war ein Fehler gewesen.
»Hast
Er gab keine Antwort.
»Lassen Sie es mich mal versuchen«, sagte Doreen. Und mit ihrer freundlichen Mir-konnen-Sie-alles- erzahlen-Stimme einer alten Lady, die in Romanen immer wirkte, fragte sie: »
»Ich hatte manchmal einen Verdacht«, sagte er. »Aber die meiste Zeit hab ich nicht daruber nachgedacht. Ich musste mich um die Firma kummern.«
»Haben Sie jemals Ihre Mutter gefragt?«
»Schon moglich«, sagte er, und Tess fand den Blick seines merkwurdig schielenden rechten Auges ausweichend. Aber wer konnte das in diesem abenteuerlichen Mondschein schon beurteilen? Wer konnte sich dessen sicher sein?
»Wenn Madchen verschwunden sind? Haben Sie da gefragt?«
Darauf antwortete Big Driver nicht, vielleicht weil Doreen angefangen hatte, wie Fritzy zu sprechen. Und naturlich wie Tom das TomTom.
»Aber es hat nie einen Beweis gegeben, stimmt’s?« Das war wieder Tess selbst. Sie war sich nicht sicher, ob er auf ihre Stimme antworten wurde, aber er tat es.
»Nein. Keinen Beweis.«
»Und du
Wieder keine Antwort, also stand Tess auf und ging unsicher zu der braunen Mutze mit den Bleichmittelflecken, die der Wind uber die Einfahrt auf den Rasen geweht hatte. In dem Augenblick, in dem sie die Mutze aufhob, gingen die Scheinwerfer wieder aus. Drinnen horte der Hund zu bellen auf. Sie musste unwillkurlich an Sherlock Holmes
Sie tippte an den Schirm der braunen Baseballmutze und fragte: »Ist das die Mutze, die du tragst, wenn du unterwegs bist?« Dabei wusste sie, dass sie es nicht war.
Strehlke schwieg, aber Doreen Marquis, die Doyenne des Strickclubs, antwortete fur ihn. »Naturlich nicht. Wenn Sie fur Red Hawk fahren, tragen Sie eine Red-Hawk-Mutze, nicht wahr, mein Lieber?«
»Ja«, sagte Strehlke.
»Und Sie tragen auch Ihren Ring nicht, hab ich recht?«
»Nein. Fur Kunden zu protzig. Nicht geschaftsma?ig. Und was ware, wenn in einer dieser miesen Truckerkneipen jemand, der zu bekifft oder betrunken ist, um es besser zu wissen, ihn fur echt halten wurde? Keiner wurde riskieren, mich zu uberfallen, dafur bin ich zu gro? und stark - oder war es zumindest bis heute Nacht -, aber jemand konnte mich erschie?en. Dabei hab ich’s nicht verdient, erschossen zu werden. Nicht wegen eines Talmirings, nicht wegen der schrecklichen Dinge, die mein Bruder vielleicht getan hat.«
»Ihr Bruder und Sie fahren nie gleichzeitig fur die Firma, nicht wahr, mein Lieber?«
»Nein. Wenn er unterwegs ist, kummere ich mich ums Buro. Und wenn ich unterwegs bin … na ja, ich denke, Sie wissen, was er tut, wenn ich unterwegs bin.«
»Du hattest ihn
»Er hatte Angst«, sagte Doreen mit ihrer freundlichsten Stimme. »Nicht wahr, mein Lieber?«
»Ja«, sagte Al. »Ich hatte Angst.«
»Vor deinem Bruder?«, fragte Tess unglaubig oder bewusst zweifelnd. »Angst vor deinem
»Nicht vor ihm«, sagte Al Strehlke. »Vor ihr.«
39
Als Tess wieder am Steuer sa? und den Motor anlie?, sagte Tom: »Das konntest du unmoglich wissen, Tess. Und alles ist so schnell passiert.«
Das war sehr wahr, aber es ignorierte die entscheidende Tatsache, auf die allein es ankam: Indem sie in einem filmreifen Rachefeldzug Jagd auf ihren Vergewaltiger gemacht hatte, hatte sie sich selbst zur Holle geschickt.
Sie hob den Revolver an die Schlafe, lie? ihn jedoch wieder sinken. Das durfte sie nicht, nicht jetzt. Sie musste weiter an die Frauen in der Wellblechrohre denken. An ihre Verpflichtung ihnen und den anderen gegenuber, die darin enden konnten, wenn Lester Strehlke entkam. Und nach dem, was sie vorhin getan hatte, war es wichtiger denn je, dass er nicht entkam.
Sie musste noch ein weiteres Ziel anfahren. Aber nicht mit ihrem Expedition.
40
Die Zufahrt zum Haus 101 Township Road war nicht lang, und sie war nicht asphaltiert. Sie bestand nur aus einer Fahrspur zwischen Buschen, die so eng standen, dass sie an den Seiten des alten blauen Ford F-150 kratzten, als Tess zu dem kleinen Haus fuhr. Dieses hatte nichts Aufgeraumtes an sich; dieses war ein schiefes altes Gruselhaus, das direkt aus
Tess machte sich nicht die Muhe, sich heimlich anzunahern - wozu die Scheinwerfer ausschalten, wenn Lester Strehlke das Motorengerausch des Pick-ups seines Bruders fast so gut kannte wie die Stimme seines Bruders?
Sie trug weiter die fleckige braune Mutze, die Big Driver getragen hatte, wenn er nicht unterwegs gewesen war - seine Glucksbringermutze, die ihm zuletzt doch Ungluck gebracht hatte. Der Ring mit dem falschen Rubin war fur ihre Finger viel zu weit, aber sie hatte ihn in die linke Vordertasche ihrer Cargohose gesteckt. Little Driver hatte sich als sein gro?er Bruder getarnt, wenn er jagen gegangen war, und auch wenn er vielleicht nicht genug