Vernon zog die Sandalen auf der Veranda aus und ging hinein. Es war ein Haus im japanischen Stil: einfach und asketisch. Die Schiebeturen waren aus Reispapier, die Bo-den mit beigen Matten bedeckt. Darunter lagen glatte Holzdielen. Innen roch es nach Bienenwachs und Weihrauch. Man horte das leise Platschern von Wasser. Durch eine Reihe von Offnungen sah Vernon den japanischen Garten, der sich vor dem Haus ausbreitete. Moosbewachsene Felsen ragten aus geharktem Kies auf. Da war auch ein Teich, in dem Lotos bluhte. Den Lehrer sah er nicht.
Vernon wandte sich um und lugte durch einen Gang zu seiner Linken durch mehrere Turrahmen, hinter denen ein minderjahriges, barfu?iges Madchen in einem Gewand zu-gange war. An ihrem Hinterkopf baumelte ein langer blonder Zopf; welke Blumen waren eingeflochten. Sie schnitt in der Kuche Gemuse fur den Lehrer.
»Bist du da, Lehrer?«, rief Vernon.
Das Madchen fuhr mit seiner Tatigkeit fort.
»Hier entlang«, kam die leise Stimme.
Vernon folgte ihr und fand den Lehrer in seinem Meditati-onsraum sitzend vor. Er hockte mit gekreuzten Beinen und geschlossenen Augen auf einer Matte. Zwar offnete er die Augen, doch er stand nicht auf. Vernon blieb respektvoll stehen. Die wurdige, stattliche Gestalt des Lehrers war in ein einfaches Gewand aus ungefarbtem Leinen gekleidet.
Ein langer grauer, glatt nach unten gekammter Haarkranz wuchs um eine kleine kahle Stelle herum, sodass der Lehrer fast wie Leonardo da Vinci aussah. Scharfsinnige blaue Au-
gen faltelten sich unter den stark gebogenen Brauen der breiten Stirn. Ein gestutzter Bart mit grauen Strahnen vervollstandigte das Gesicht. Wenn der Lehrer sprach, war seine Stimme weich und volltonend und mit einem angenehmen Rollen sowie einem leichten Brooklyn-Akzent un-terlegt, der ihn als Menschen niederer Herkunft kennzeich-nete. Er war um die sechzig; sein genaues Alter kannte keiner. Art Brewer, ehemals Philosophieprofessor an der Universitat Berkeley, hatte seinem Amt entsagt, um sich in ein geistiges Leben zuruckzuziehen. Hier, im Ashram, hatte er eine Gemeinschaft gegrundet, die sich dem Gebet, der Meditation und dem spirituellen Wachstum widmete: Sie war auf angenehme Weise konfessionslos, basierte locker auf dem Buddhismus, wies aber weder die ubertriebene Disziplin noch den Intellektualismus, den Zolibat oder den Fata- lismus auf, die dazu neigten, diese spezielle religiose Tradition einzuengen. Der Ashram war eher ein hubscher Zu-fluchtsort in einer schonen Umgebung, in dem jeder unter der sanften Anleitung des Lehrers auf seine Weise betete.
Kostenpunkt: siebenhundert Dollar pro Woche. Unterkunft und Verpflegung inklusive.
»Setz dich hin«, sagte der Lehrer.
Vernon nahm Platz.
»Wie kann ich dir helfen?«
»Es geht um meinen Vater.«
Der Lehrer war ganz Ohr.
Vernon sammelte seine Gedanken und atmete ein. Er berichtete von der Krebserkrankung seines Vaters, dem Erbe und der Herausforderung, das Grab zu finden. Als er fertig war, herrschte lange Zeit Schweigen. Vernon fragte sich, ob der Lehrer ihm raten wurde, dem Erbe zu entsagen, denn ihm fielen seine zahlreichen negativen Kommentare uber den bosen Einfluss des Geldes ein.
»Lass uns eine Tasse Tee trinken«, sagte der Lehrer. Seine Stimme war au?ergewohnlich mild, und er legte sanft eine Hand auf Vernons Ellbogen. Sie sa?en da, und der Lehrer rief nach Tee, den das bezopfte Madchen ihnen brachte. Sie nippten schweigend an dem Getrank, dann fragte der Lehrer: »Wie gro? ist dieses Erbe genau?«
»Ich schatze, nach Abzug der Steuern durften ungefahr hundert Millionen ubrig bleiben.«
Der Lehrer nippte erneut - und ziemlich lange - an seinem Tee. Dann trank er noch einen Schluck. Falls die Hohe der Summe ihn uberraschte, lie? er es sich nicht anmerken.
»Lass uns meditieren.«
Auch Vernon schloss die Augen. Die Konzentration auf sein Mantra fiel ihm schwer, denn die ihm bevorstehenden Fragen machten ihn nervos. Je langer er sie uberdachte, desto komplizierter schienen sie zu werden. Hundert Millionen Dollar. Hundert Millionen Dollar. Der Wortlaut hatte eine gewisse Ahnlichkeit mit seinem Mantra. Er kam ihm bei der Meditation in die Quere und hinderte ihn daran, innere Ruhe und Einkehr zu finden.
Als sein Meister den Kopf hob, empfand Vernon Erleichterung. Der Lehrer nahm Vernons Hande und umschloss sie mit den seinen. Seine blauen Augen waren ungewohnlich hell.
»Nur wenigen Menschen wird eine solche Chance zuteil, Vernon. Du darfst sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.«
»Ja, wirklich?«
Der Lehrer stand auf, und als er sprach, waren Kraft und Widerhall in seiner Stimme. »Wir mussen dieses Erbe suchen. Und zwar
8
Als Tom mit der Behandlung des kranken Pferdes fertig war, ging hinter der Toh-Ateen-Mesa die Sonne unter und warf lange goldene Schatten uber Salbei und Chamisa. Dahinter erhob sich eine uber dreihundert Meter hohe, im sterbenden Licht rot leuchtende Wand aus behauenem Sandstein. Tom sah sich das Pferd noch einmal kurz an, dann tatschelte er ihm den Hals und wandte sich der Besitzerin zu, einer jungen Navajo. »Er wird's schon schaffen. Ist nur ein Anflug von Sandkolik.«
Die junge Frau lie? ein erleichtertes Lacheln sehen.
»Jetzt hat er erst mal Hunger. Fuhren Sie ihn ein paar Mal durch die Koppel, dann geben Sie ihm zusammen mit dem Hafer eine Schopfkelle Psyllium. Lassen Sie ihn danach saufen. Dann geht's ihm bestimmt bald besser.«
Die Navajo-Gro?mutter, die funf Meilen geritten war, um in seine Tierarztpraxis zu kommen - die Stra?e war, wie ublich, unterspult -, nahm seine Hand. »Danke, Doktor.«
Tom deutete eine Verbeugung an. »Stets zu Diensten.« Er freute sich schon auf den Ruckritt nach Bluff. Er war froh, dass die Stra?e unterspult war, denn so hatte er eine Ent-schuldigung fur den langen Ritt. Er hatte ihm zwar den halben Tag kaputtgemacht, aber der Weg fuhrte immerhin durch eine der schonsten Felslandschaften des Sudwestens: durch die als Morrison-Formation bekannten jurassischen Sandsteinablagerungen, die von Dinosaurierfossilien nur so strotzten. Dort gab es zahllose abgelegene Canyons, die bis zur Toh-Ateen-Mesa hinauffuhrten. Ob da oben je Palaon-tologen gewesen waren, um sie zu erforschen? Wahrscheinlich nicht.
Er schuttelte den Kopf und lachelte vor sich hin. Die Wuste war ein schoner Ort, um den Geist zu klaren. Und er musste uber vieles nachdenken. Diese verruckte Sache mit seinem Vater war der gro?te Schock seines Lebens gewesen.
»Was sind wir Ihnen schuldig, Doktor?«, unterbrach die Gro?mutter seine Traumerei.
Tom warf einen Blick auf die schabige Teerpappenbehau-sung, das kaputte, halb im Unkraut vergrabene Auto und die mageren Schafe im Pferch.
»Funf Dollar.«
Die Frau griff in ihre Baumwollkordbluse, entnahm ihr ein paar angeschmutzte Dollarscheine und zahlte funf ab.
Tom hatte gerade an seinen Hut getippt und sich umgedreht, um sein Pferd zu holen, als ihm am Horizont eine kleine Staubwolke auffiel. Auch die beiden Navajos hatten sie bemerkt. Ein Pferd und ein Reiter kamen aus nordlicher Richtung schnell auf sie zu. Und zwar aus der Gegend, aus der auch Tom gekommen war. Der dunkle Fleck wurde in dem riesigen goldenen Wustenbecken immer gro?er. Tom fragte sich, ob es sein Partner Shane war. Die Vorstellung alarmierte ihn. Es musste schon ein verflucht wichtiger Notfall sein, wenn Shane hier aufkreuzte, um ihn zu holen.