Fur Aletheia Vaune Preston

und

lsaac Jerome Preston

1

Tom Broadbent nahm die letzte Kurve der sich dahinschlangelnden Stra?e und stellte fest, dass seine beiden Bruder bereits am gro?en Eisentor des Landsitzes der Broadbents warteten. Philip klopfte an einem Torpfosten gereizt die Tabakskrumel aus seiner Pfeife, und Vernon betatigte mehrmals energisch den Klingelknopf. Das Haus stand in finsterem Schweigen hinter ihnen und ragte wie der Palast eines Paschas auf dem Hugel auf. Reihen von Fenstern, Schornsteine und Turmchen glitzerten im hellen nachmittaglichen Sonnenschein von Santa Fe, New Mexico.

»Vater ist doch sonst immer punktlich«, sagte Philip. Er steckte sich die Pfeife zwischen die wei?en Zahne und biss leise klickend auf das Mundstuck. Dann druckte auch er den Klingelknopf, schob seine Manschette hoch und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Tom fand, dass Philip sich kaum verandert hatte: Bruyere-Pfeife, ironischer Blick, glatt rasierte Wangen, Rasierwasser, das Haar aus der hohen Stirn nach hinten gekammt. An seinem Handgelenk funkelte eine goldene Uhr. Er trug graue Hosen und ein Marine-jackett. Sein britischer Akzent klang noch etwas versnobter als sonst. Im Gegensatz zu ihm wirkte Vernon mit seiner Gaucho-Hose, den Sandalen, dem langen Haar und dem Bart wie Jesus.

»Er fuhrt uns schon wieder an der Nase rum.« Vernon druckte abermals den Klingelknopf. Der in den Pifton-Baumen wispernde Wind brachte den Duft von warmem Harz und Staub mit. In dem gro?en Haus blieb alles still.

Als Philip sich Tom zuwandte, wehte der Geruch teuren Pfeifentabaks durch die Luft. »Wie ist die Lage bei den Indianern drau?en, Tom?«

»Bestens.«

»Freut mich zu horen.«

»Und bei dir?«

»Fantastisch. Konnte nicht besser sein.«

»Vernon?«, fragte Tom.

»Alles im Lot. Keine Probleme.«

Das Gesprach erstarb. Sie schauten sich an. Dann blickten sie verlegen in eine andere Richtung. Tom hatte seinen Brudern noch nie viel zu sagen gehabt. Uber ihnen flog krachzend eine Krahe dahin. Eine unbehagliche Stille senkte sich auf die am Tor versammelte Gruppe herab. Nach einer Weile setzte Philip der Klingel erneut heftig zu. Schlie?lich warf er einen finsteren Blick durch das Tor und packte das gusseiserne Gestange. »Sein Wagen steht noch in der Garage. Vielleicht ist ja nur die Klingel kaputt.« Er holte tief Luft. »Hallooo! Vater! Deine anhanglichen Sohne sind da!«

Ein quietschendes Gerausch ertonte, dann offnete sich das Tor unter dem Druck seiner Hande.

»Es ist gar nicht abgeschlossen«, sagte Philip uberrascht.

»Aber sonst lasst er es doch nie offen stehen!«

»Er ist drin und wartet auf uns«, meinte Vernon. »Das ist alles.«

Sie druckten das Tor mit den Schultern auf, und es schwang auf quietschenden Scharnieren beiseite. Vernon und Philip schritten zu ihren Autos, um sie auf dem Grundstuck zu parken. Tom ging zu Fu? weiter. Kurz darauf stand er vor dem Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Wie viele Jahre waren seit seinem letzten Besuch vergangen? Drei? Es erfullte ihn mit eigenartigen und widerspruchlichen Gefuhlen: Der Erwachsene kehrt an den Ort seiner Kindheit zuruck. Die Gro?e des Anwesens war selbst fur Santa Fe von protzigem Prunk. Die kiesbestreute Zufahrt fuhrte in einem Halbkreis an zwei massiven Tur-flugeln aus dem 17. Jahrhundert vorbei. Die Tur bestand aus handgeschlagenen Mesquite-Platten. Das Haus war ein Kunstwerk der Bildhauerei fur sich - ein mit abgerundeten Mauern versehenes niedriges Gebaude aus Adobeziegeln, verzierten Strebepfeilern, Vigas, Latillas, Nischen, Portalen und echten Schornsteinkappen. Umgeben war es von Pappeln und einer smaragdgrunen Wiese. Da es auf einer Hu-gelkuppe stand, hatte man eine wunderbare Aussicht auf die Berge, die Hochwuste, die Lichter der Stadt und die uber den Jemez-Bergen aufziehenden sommerlichen Ku-muluswolken. Es hatte sich zwar nicht verandert, doch wirkte seine Ausstrahlung irgendwie anders. Vielleicht, dachte Tom, habe ich mich ja verandert.

Eines der Garagentore stand offen. Tom sah, dass der grune Mercedes-Gelandewagen seines Vaters in der Nische abgestellt war. Dann horte er die Fahrzeuge seiner Bruder uber den Kies der Zufahrt knirschen. Sie parkten vor dem Haupteingang. Turen wurden zugeschlagen, dann gesellten sich die beiden zu Tom, der bereits vor dem Haus stand.

Gleichzeitig machte sich in Toms Magen ein mulmiges Gefuhl breit.

»Worauf warten wir?« Philip ging zum Haupteingang hinauf und betatigte mehrmals die Klingel. Vernon und Tom folgten ihm.

Es herrschte absolute Stille.

Philip, wie immer ungeduldig, druckte zum letzten Mal auf den Knopf. Tom horte das dumpfe Lauten drinnen im Haus. Die Tone erinnerten ihn an die ersten Akkorde des Liedes »Marne«. Seiner Meinung nach ware dies fur den bizarren Humor ihres Vaters typisch gewesen.

Philip legte die Hande an den Mund und rief: »Hallooo!«

Noch immer tat sich nichts.

»Glaubt ihr, er ist krank?«, fragte Tom. Das unbehagliche Gefuhl in seinem Innern wurde starker.

»Ach was«, sagte Philip argerlich. »Das ist nur wieder eins von seinen Spielchen.« Er schlug so fest mit der geballten Faust auf die massive mexikanische Tur ein, dass es laut krachte.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Als Tom sich umschaute, fiel ihm auf, dass der Hof leicht heruntergekommen wirkte: Der Rasen war nicht gemaht. In den Tulpenbeeten wucherte Unkraut.

»Ich schau mal durch ein Fenster«, sagte er.

Er bahnte sich seinen Weg durch eine gestutzte Chamisa-Hecke, durchquerte auf Zehenspitzen ein Blumenbeet und lugte durch das Wohnzimmerfenster. Irgendetwas war eindeutig anders, aber er brauchte eine Weile, bis es ihm dammerte. Der Raum wirkte normal: Er sah die gleichen Leder-sofas und Ohrensessel wie immer und auch den gleichen Steinkamin und den gleichen Kaffeetisch. Aber uber dem Kamin hatte ein gro?es Gemalde gehangen, das nun fehlte.

Welches, wusste er nicht mehr genau. Tom dachte angestrengt nach. Der Braque? Oder der Monet? Dann fiel ihm auf, dass die altromische Bronzestatue, die einen Knaben darstellte, ebenfalls fehlte. Sie hatte bisher auf der linken Kaminhalfte Hof gehalten, das Bucherregal wies Lucken auf. Bucher waren herausgenommen worden. Der Raum wirkte unordentlich. Hinter dem Turrahmen, der in den Korridor fuhrte, lag Mull auf dem Boden: zerknulltes Papier, ein Blisterverpackungsstreifen, eine herrenlose Rolle Klebeband.

»Wie stehen die Aktien, Alter?«, rief Philip um die Ecke.

»Schau's dir lieber selbst mal an!«

Philips spitze Ferragamo-Schuhe bahnten sich ihren Weg durch die Busche. Seine Miene zeigte Verargerung. Vernon kam hinter ihm her.

Philip lugte durch das Fenster und schnappte nach Luft.

»Der Lippi«, keuchte er, »uber dem Sofa. Er ist weg. Und der Braque uber dem Kamin auch! Er hat alle Bilder abgehangt! Er hat sie verkauft!«

»Reg dich nicht auf, Philip«, sagte Vernon. »Vermutlich hat er das Zeug nur weggepackt. Vielleicht will er umziehen.

Du liegst ihm doch seit Jahren in den Ohren, dass das Haus zu gro? fur ihn und zu abgelegen ist.«

Philips Miene entspannte sich augenblicklich. »Ja, stimmt. Hast Recht.«

»Wahrscheinlich ist das auch der Grund fur diese mysteriose Zusammenkunft«, meinte Vernon.

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