Als die Gestalt Kontur annahm, sah er, dass er es nicht war. Es war eine Frau. Und sie ritt auf seinem Pferd Knock.
Als sie in die Ansiedlung trabte, war sie durch den Ritt von Staub bedeckt. Knock schaumte und schnaubte. Die Frau hielt an und schwang sich vom Rucken des Pferdes.
Sie war fast zwolf Kilometer ohne Sattel und Zaumzeug durch die einsame Wuste geritten. Welch ein Irrsinn! Wieso ritt sie uberhaupt sein bestes Pferd? Hatte sie nicht einen von Shanes Kleppern nehmen konnen? Er wurde Shane den Hals umdrehen.
Die Frau kam auf ihn zu. »Ich bin Sally Colorado«, sagte sie. »Ich wollte Sie eigentlich in der Praxis aufsuchen, aber Ihr Partner sagte, Sie waren hier drau?en. Deswegen bin ich hier.« Ihr honigblondes Haar raschelte, als sie ihm die Hand hinhielt. Tom schuttelte sie vollig verblufft. Das Haar der Frau fiel ihr uber die Schultern auf ein wei?es, nun staubiges Baumwollhemd, das an ihrer schlanken Taille in eine Jeans gestopft war. Ein leichter Pfefferminzgeruch umgab sie. Als sie lachelte, schien ihre Augenfarbe von Grun zu Blau zu wechseln. Jedenfalls erweckte es den Eindruck. Sie trug Turkisohrringe, doch die Farbe ihrer Augen war satter als die der Steine.
Nach einer Weile fiel Tom auf, dass er ihre Hand noch immer festhielt. Er lie? sie los.
»Ich musste Sie einfach ausfindig machen«, sagte Sally.
»Ich konnte nicht warten.«
»Ein Notfall?«
»Jedenfalls kein tierarztlicher, wenn Sie das meinen.«
»Um was fur einen geht es dann?«
»Das erzahle ich Ihnen auf dem Ruckweg.«
»Verdammt noch mal«, explodierte Tom. »Ich kann's nicht fassen, dass Shane es zulasst, dass Sie mein bestes Pferd ohne Sattel und Zaumzeug fast zuschanden reiten. Sie hatten dabei draufgehen konnen!«
»Shane hat's nicht zugelassen.« Die junge Frau lachelte.
»Wie haben Sie das Pferd dann gekriegt?«
»Ich hab's geklaut.«
Tom brauchte eine Weile, bis er seine Besturzung uberwand und zu lachen wagte.
Als die beiden nach Norden aufbrachen, war die Sonne untergegangen. Sie ritten zusammen nach Bluff zuruck.
Eine Weile bewegten sie sich schweigend nebeneinander her, dann sagte Tom: »Also los, dann erzahlen Sie mal, was so wichtig ist, dass Sie ein Pferd und Ihren Hals riskieren mussten.« »Tja ...« Sally zogerte.
»Ich bin ganz Ohr, Miss ... Colorado. Falls Sie wirklich so hei?en.«
»Ich wei?, es ist ein komischer Name. Mein Urgro?vater war beim Varietee. Er hat als Indianer verkleidet eine medizinische Nummer aufgefuhrt und den Namen Colorado als Kunstlername angenommen. Er ist besser als unser alter Smith. Er ist irgendwie an uns hangen geblieben. Nennen Sie mich Sally.«
»Na schon, Sally. Erzahlen Sie mir Ihre Geschichte.« Tom ertappte sich dabei, dass er ihr mit einem guten Gefuhl beim Reiten zuschaute. Sie machte den Eindruck, als sei sie auf einem Pferd zur Welt gekommen. Ihre lassige aufrechte Haltung musste eine Stange Geld gekostet haben.
»Ich bin Anthropologin«, begann Sally. »Genauer gesagt: Ich bin Ethnopharmazeutin. Ich studiere einheimische Medizin bei Professor Julian Clyve in Yale. Er war der Mann, der vor einigen Jahren die Hieroglyphen der Mayas geknackt hat. Eine wirklich geniale Arbeit. Es stand in allen Zeitungen.«
»Das bezweifle ich nicht.«
Sally hatte ein scharfes, sauber geschnittenes Profil, eine kleine Nase und eine komische Art, die Oberlippe vorzu-schieben. Wenn sie lachelte, hatte sie ein Grubchen, doch nur an einer Seite des Mundes. Ihr Haar war wie dunkles Gold; es schlangelte sich in einer glanzenden Kurve uber ihre schlanken Schultern und fiel ihr dann uber den Ruk-ken. Sie war eine bemerkenswert schone Frau.
»Professor Clyve hat die gro?te existierende Sammlung von Maya-Schriften zusammengetragen. Eine Bibliothek samtlicher Schriften der alten Maya-Sprache. Sie besteht aus Abrieben von Stein-Inschriften, Handschriften und Ko-pien von Inschriften auf Topfen und Steintafeln. Seine Bibliothek wird von Gelehrten aus aller Welt konsultiert.«
Tom konnte den tatterigen alten Padagogen fast in seinen verstaubten Manuskripten herumkramen sehen.
»Die beruhmtesten Maya-Schriften waren in den so genannten Codices enthalten. Dabei handelte es sich um Urbucher der Mayas, die in Glyphen auf Rindenpapier geschrieben wurden. Die Spanier haben die meisten verbrannt, weil sie sie fur Bucher des Teufels hielten, doch einige unvollstandige Codices haben hier und da uberdauert.
Ein vollstandiger Maya-Codex wurde allerdings nie gefunden. Im letzten Jahr stie? Professor Clyve auf
Sally zog ein gefaltetes Stuck Papier aus der Hemdtasche und hielt es ihm hin. Tom nahm es an sich. Es war eine ver-gilbte alte Fotokopie, die eine in Hieroglyphen verfasste Manuskriptseite zeigte. Am Rand befanden sich mehrere Zeichnungen von Blattern und Blumen. Sie kamen ihm vage bekannt vor, und so fragte er sich, wo er sie schon einmal gesehen hatte.
»Nur dreimal in der Menschheitsgeschichte wurde unabhangig voneinander die Schrift erfunden. Die Hieroglyphen der Mayas gehoren dazu.«
»Mein Mayanisch ist ein wenig eingerostet. Was steht auf dem Zettel?«
»Er beschreibt die medizinischen Eigenschaften eines bestimmten Gewachses, das im mittelamerikanischen Regenwald gedeiht.«
»Was bewirkt es? Kann es Krebs heilen?«
Sally lachelte. »Das ware was. Das Gewachs hei?t K'ik'te oder auch Blutbaum. Der Zettel beschreibt, wie man seine Rinde kocht, Asche als Alkali hinzufugt und die Paste bei einer Verwundung als Wickel einsetzt.«
»Interessant.« Tom gab Sally den Zettel zuruck.
»Es ist mehr als interessant. Es ist medizinisch korrekt. Die Rinde enthalt namlich ein leichtes Antibiotikum.«
Sie befanden sich nun auf dem glatten Steinplateau. Ein paar Kojoten heulten klagend in einem fernen Canyon. Ab jetzt mussten sie hintereinander reiten. Sally ritt hinter Tom her, der ihr zuhorte.
»Die Seite stammt aus einem mayanischen Medizin-Codex. Er wurde vermutlich so um das Jahr 800 geschrieben, auf dem Hohepunkt der klassischen Maya-Kultur. Der Codex enthalt
»Der Ihren auch, nehme ich an.«
»Ja. Es gibt ein Buch, das alle medizinischen Geheimnisse des Regenwaldes enthalt und uber Jahrhunderte hinweg erganzt wurde. Wir reden hier uber den uppigsten Regenwald der Welt, in dem Hunderttausende pflanzlicher und tierischer Spezies zu Hause sind; viele davon sind der Wissenschaft noch unbekannt. Die Mayas kannten jede Pflanze und jedes Tier; alles, was in diesem Regenwald existiert.
Sally trabte nun neben Tom her. Ihr offenes Haar wehte, als sie ihn einholte. »Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«
»Bestimmt«, sagte Tom, »hat sich die Medizin seit den alten Mayas ganz schon weiterentwickelt.«
Sally Colorado schnaubte. »Ursprunglich kamen funfundzwanzig Prozent unserer samtlichen Arzneimittel aus der Pflanzenwelt. Und doch ... Wussten Sie, dass bisher nur ein halbes Prozent der 265 000 Pflanzenarten dieser Erde auf ihre medizinischen Eigenschaften hin untersucht wurden?
Stellen Sie sich die Moglichkeiten vor! Die erfolgreichste und wirkungsvollste Droge aller Zeiten - Aspirin - wurde ursprunglich in der Rinde eines Baumes entdeckt, die Eingeborene zum Lindern von Schmerzen nutzten. Taxol, ein wichtiges Antikrebsmittel, wird ebenfalls aus Baumrinde hergestellt. Cortison wurde aus