Bootes nicht sahen.
Die Gerausche des Militarbootes wurden sehr laut. Es hatte die Geschwindigkeit gedrosselt. Ein Scheinwerfer leuchtete den Bereich ab, wo sie sich versteckt hatten. Tom horte das Knattern eines Walkie-Talkie und das Murmeln von Stimmen. Der Scheinwerfer erhellte den sie umgebenden Dschungel wie eine Filmkulisse - dann wanderte er langsam weiter. Die wunderbare Dunkelheit kehrte zuruck. Das Motorengerausch zog an ihnen vorbei und wurde leiser.
Tom setzte sich hin. Er sah gerade noch das Licht des Scheinwerfers, dann fuhr das Boot in eine Flussbiegung hinein. »Sie sind weg«, sagte er.
Sally setzte sich auf und schob sich das verhedderte Haar aus dem Gesicht. Die Moskitos hatten sich in einer dichten surrenden Wolke um sie versammelt. Tom spurte sie uberall in seinen Haaren. Sie krabbelten ihm in die Ohren, versuchten in seine Nase einzudringen und liefen ihm uber den Hals. Jeder Schlag totete ein Dutzend, die auf der Stelle ersetzt wurden. Als er atmen wollte, atmete er Moskitos ein.
»Wir mussen hier raus.« Sally schlug auf sich ein.
Tom riss trockene Zweige von den Buschen ab, die sie umgaben.
»Was machen Sie da?«
»Ich zunde ein Feuer an.«
»Wo denn?«
»Werden Sie schon sehen.« Als er genugend Zweige gesammelt hatte, beugte er sich uber die Bordwand und schaufelte Schlamm aus dem Sumpf empor. Am Boden des Einbaums formte er ihn zu einer Art Kuchen. Diesen bedeckte er mit Blattern. Obendrauf baute er ein kleines Tipi aus Astchen und trockenen Blattern.
»Zundholz.«
Sally reichte ihm eines, und er zundete das Feuer an. Sobald es vor sich hin brannte, legte Tom einige grune Blatter und Astchen in die Flammen. Eine Rauchwolke bildete sich und stand in der unbeweglichen Luft. Tom riss ein gro?es Blatt von einem Busch neben ihnen ab und setzte es als Facher ein, damit der Rauch Sally einhullte. Der wutende Moskitoschwarm wurde zuruckgetrieben. Der Qualm roch angenehm su? und wurzig.
»Wie gerissen«, meinte Sally.
»Mein Vater hat es mir gezeigt, als wir mal im Norden von Maine einen Kanutrip machten.« Tom griff nach oben, riss noch mehr Blatter ab und warf sie ins Feuer.
Sally packte die Landkarte aus und untersuchte sie im Licht der Taschenlampe. »Sieht so aus, als hatte der Fluss jede Menge Seitenarme. Ich glaube, wir sollten einen davon nehmen, bis wir in Pito Solo sind.«
»Gute Idee. Aber ich glaube, von jetzt an mussen wir staken. Wir konnen das Risiko nicht eingehen, den Motor anzuwerfen.«
Sally nickte.
»Sie kummern sich ums Feuer«, sagte Tom. »Ich stake, und irgendwann wechseln wir uns ab. Wir halten erst wieder an, wenn wir in Pito Solo sind.«
»Einverstanden.«
Tom schob das Boot in den Fluss zuruck, stakte dicht am uberfluteten Wald vorbei und lauschte nach dem Motorboot. Bald erreichten sie einen kleinen Seitenarm, der vom Hauptstrom abwich, und bogen ab.
»Ich hab irgendwie das Gefuhl, dass Leutnant Vespan gar nicht die Absicht hatte, uns nach San Pedro Sula zuruckzubringen«, sagte Tom. »Ich glaube, er wollte uns aus dem Hubschrauber werfen. Hatte er das Ersatzteil nicht gebraucht, waren wir langst tot.«
19
Vernon schaute zu dem riesigen Blatterbaldachin hinauf und merkte, wie die Nacht sich uber den Meambar-Sumpf hinabsenkte. Mit ihr kamen das Surren der Insekten und der dampfende Verwesungsmief, der aus dem schauerlichen endlosen Schlamm aufstieg, der sie umgab. Er trieb wie Giftgas zwischen den riesigen Baumstammen her. Irgendwo aus den Tiefen des Sumpfes horte er den fernen Schrei eines Tieres, dem das Gebrull eines Jaguars folgte.
Es war nun schon der zweite Abend, an dem sie kein trockenes Land fanden, auf dem sie lagern konnten. Deswegen hatten sie den Einbaum - in der Hoffnung, die Blatter konnten sie vor dem pausenlos fallenden Regen schutzen - unter einen Hain gigantischer Bromeliaden vertaut. Doch auch sie hielten den Regen nicht auf; sie kanalisierten den standigen Wasserstrom so, dass man ihm nicht entgehen konnte.
Der Lehrer lag in eine feuchte Decke gewickelt am Boden des Einbaums im Regen und schmiegte sich an einen Stapel Ausrustung. Er zitterte trotz der erstickenden Hitze. Vor seinem Gesicht war der sie in einen summenden Nebel hul-lende Moskitoschwarm besonders dicht. Vernon beobachtete das Getier, wie es ihm uber die Lippen und Augen krabbelte. Er hob die Hand und verschmierte noch mehr von dem chemischen Zeug auf seinem Gesicht, doch das Unter-fangen war hoffnungslos. Wenn der Regen es nicht ab-wusch, dann eben der Schwei?.
Vernon schaute auf. Ihre beiden Fuhrer hockten am Bug des Bootes, spielten im Licht der Taschenlampe Karten und besoffen sich. Sie waren seit dem Beginn ihrer Reise nur selten nuchtern gewesen. Vernon war ziemlich besturzt, als er bemerkt hatte, dass eines der 35-Liter-Kunststofffasser kein Trinkwasser enthielt, sondern schwarz gebrannten
Er beugte sich vor, schlang sich die Arme um die Schultern und wiegte sich hin und her. Es war noch nicht ganz dunkel. Die Nacht schien hier sehr langsam anzubrechen.
In den Sumpfen sah man nichts vom Sonnenuntergang. Das Licht wurde zuerst grun, dann blau, dann violett und schlie?lich schwarz. Bei Morgengrauen war es umgekehrt.
Selbst an sonnigen Tagen sah man keine Sonne, sondern nur dunkelgrune Dusternis. Vernon sehnte sich verzweifelt nach ein wenig Licht und hatte gern frische Luft geatmet.
Nach vier Tagen des Herumziehens durch die Sumpfe hatten die Fuhrer endlich zugegeben, dass sie sich verirrt hatten, dass sie umkehren mussten. Also hatten sie gewendet. Aber offenbar waren sie nur noch tiefer in den Sumpf eingedrungen. Dies war eindeutig nicht der Weg, uber den sie gekommen waren. Mit den Fuhrern konnte man nicht mehr reden. Obwohl Vernon leidlich gut Spanisch sprach und die Manner ein wenig Englisch beherrschten, waren sie meist viel zu betrunken, um sich in uberhaupt irgendeiner Sprache zu verstandigen. Als in den letzten Tagen immer deutlicher geworden war, dass sie sich verfranzt hatten, hatten die beiden dies immer lauter bestritten und umso mehr getrunken. Dann war der Lehrer krank geworden.
Vernon vernahm einen Fluch vom Bug her. Einer der Fuhrer warf seine Karten hin und stand schwankend auf. Er hielt sein Gewehr in der Hand. Das Boot wankte.
»Aufhoren!«, brullte Vernon. Doch sie ignorierten ihn, wie immer. Sie fluchten und prallten in einem trunkenen Hand-gemenge aufeinander. Das Gewehr ging los, verletzte jedoch niemanden. Die beiden Fuhrer grunzten und rauften weiter, dann legten sie ihren Streit plotzlich bei, setzten sich wieder hin, sammelten die verstreuten Spielkarten ein und teilten sie aus, als sei nichts geschehen.
»Was war das fur ein Schuss?«, fragte der Lehrer und offnete die Augen.
»Nichts«, sagte Vernon. »Sie saufen wieder.«
Der Lehrer frostelte und zog die Decke enger um sich.
»Du solltest ihnen das Gewehr wegnehmen.«
Vernon sagte nichts. Den Versuch zu machen, die beiden zu entwaffnen, war Blodsinn, selbst wenn sie betrunken waren. Gerade dann.
»Die Moskitos«, hauchte der Lehrer mit zitternder Stimme.
Vernon schmierte noch mehr von dem chemischen Zeug auf seine Hande und rieb dann das Gesicht und den Hals des Lehrers vorsichtig ein. Der Lehrer seufzte erleichtert, schuttelte sich noch einmal und schloss wieder die Augen.
Vernon zog sein nasses Hemd aus, spurte den heftigen Regen auf seinem Rucken und lauschte den Gerauschen des Waldes und den fremdartigen Schreien der Paarung und Gewalt. Er dachte uber den Tod nach. Er hatte den Eindruck, dass die Frage, die er sich sein Leben lang gestellt hatte, kurz vor der Beantwortung stand.