»Ich brauche eine Sechzehnjahrige, die mich scharf macht und mir die Zunge ins Ohr schiebt, damit ich morgens mit den Vogeln aufstehe. Sie brauchen sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen: Ich, Don Alfonso Boswas, werde Sie durch den Meambar-Sumpf fuhren.«
»Nein«, sagte Tom so entschlossen, wie er nur konnte.
»Das werden Sie
»Es ist unvermeidlich. Ich habe getraumt, dass Sie kommen und dass ich mit Ihnen gehe. Es ist so beschlossen. Ich spreche Englisch und Spanisch, aber Spanisch ist mir lieber.
Ich habe Angst vor dem Englischen. Die Sprache klingt so, als wurde jemand erwurgt.«
Tom schaute Sally wutend an. Der Greis war unmoglich.
In diesem Moment kehrte Marisol mit ihrer Mutter zuruck. Beide trugen mit Palmwedeln belegte Schneidebretter aus Holz, auf denen frische hei?e Tortillas, gebratene Bananen, gerostetes Fleisch, Nusse und frisches Obst lagen.
Tom war noch nie im Leben so hungrig gewesen. Er und Sally fingen gleich an zu schlemmen, wobei Don Alfonso ihnen half und Marisol und ihre Mutter in zufriedenem Schweigen zuschauten. Wahrend des Essens erstarb das Gesprach. Als Tom und Sally fertig waren, nahm die Frau schweigend die Teller an sich, fullte sie erneut, und dann noch ein drittes Mal.
Als sie satt waren, lehnte Don Alfonso sich zuruck und wischte sich den Mund ab.
»Horen Sie«, sagte Tom so amtlich wie moglich. »Ob Sie es nun getraumt haben oder nicht, Sie kommen nicht mit. Wir brauchen einen jungeren Mann.«
»Oder eine Frau«, sagte Sally.
»Ich nehme zwei junge Manner mit: Chori und Pingo. Ich bin au?er Don Orlando der Einzige, der den Weg durch den Meambar-Sumpf kennt. Ohne Fuhrer werden Sie sterben.«
»Ich muss Ihr Angebot ablehnen, Don Alfonso.«
»Sie haben nicht mehr viel Zeit. Die Soldaten sind hinter Ihnen her.«
»Sie waren hier?«, fragte Tom erschrocken.
»Sie waren heute Morgen da. Und sie kommen zuruck.«
Tom schaute Sally an, dann wandte er sich wieder Don Alfonso zu. »Wir haben nichts Schlimmes getan. Ich kann Ihnen erklaren ...«
»Sie brauchen nichts zu erklaren. Die Soldaten sind bose.
Wir mussen sofort Ma?nahmen ergreifen. - Marisol?«
»Ja, Gro?vater?«
»Wir brauchen Planen, Zundholzer, Benzin, Zweitakter-Maschinenol, Werkzeug, eine Bratpfanne, einen Kochtopf, Bestecke und Feldflaschen.« Er ratterte eine ganze Liste von Gegenstanden herunter.
»Haben Sie Medikamente?«, fragte Tom.
»Dank der Missionare haben wir viele nordamerikanische Medikamente. Wir haben Jesus eifrig beklatscht, um an sie heranzukommen. - Marisol, sag den Leuten, sie sollen uns die Sachen zu einem angemessenen Preis verkaufen.«
Marisol eilte hinaus. Ihre Zopfe flogen. Kaum zehn Minuten spater kehrte sie zuruck und fuhrte eine Gruppe alter Manner, Frauen und Kinder an, die alle irgendetwas dabei-hatten. Don Alfonso blieb in der Hutte. Niedere Tatigkeiten wie Handel waren unter seiner Wurde. Marisol hielt die Menge in Schach.
»Kauft, was ihr wollt, und sagt den anderen, sie sollen gehen«, empfahl Marisol. »Sie werden euch den Preis nennen.
Feilscht nicht herum; das ist bei uns nicht ublich. Sagt nur Ja oder Nein. Die Preise sind angemessen.«
Sie sprach laut auf die zerlumpten Menschen ein, die sich in einer Linie aufbauten und sich reckten.
»Die wird mal hier Hauptling werden«, sagte Tom auf Englisch zu Sally, als sein Blick auf die ordentlich ausge-richtete Warteschlange fiel.
»Ist sie jetzt schon.«
»Wir sind so weit«, erklarte Marisol. Sie deutete auf den ersten Mann in der Reihe. Er trat vor und hielt ihnen funf alte Jutesacke hin.
»Vierhundert«, sagte Marisol.
»Dollar?!«
»Lempiras.«
»Wie viele Dollar sind das?«, fragte Tom.
»Zwei.«
»Wir nehmen sie.«
Der nachste Mann trat mit einem gro?en Sack Bohnen, einem Sack losem trockenem Getreide und einem unbeschreiblich zerbeulten Aluminiumtopf mit Deckel vor. Der ursprungliche Griff fehlte, doch an seiner Stelle befand sich ein wunderschon geschnitzter und eingeolter Ersatz aus Hartholz. »Einen Dollar.«
»Wir nehmen alles.«
Der Mann legte die Gegenstande ab und zog sich zuruck.
Dann trat der nachste vor und bot ihnen zwei T-Shirts, zwei schmutzige Shorts, eine Trucker-Mutze und ein nagelneues Paar Turnschuhe der Marke Nike an.
»Na, endlich hab ich was zum Wechseln«, meinte Tom. Er schaute sich die Schuhe an. »Zufallig ist das sogar meine Gro?e. Das muss man sich mal vorstellen: Da findet man ausgerechnet hier ein nagelneues Paar Air Jordans.«
»Die werden hier hergestellt«, erklarte Sally. »Haben Sie den Schwitzbuden-Skandal schon vergessen?«
»Keineswegs.«
Die Warenprozession ging weiter: Kunststoffplanen, Sak-ke mit Bohnen und Reis, getrocknetes und gerauchertes Fleisch, uber das Tom sich Fragen zu stellen verbiss; Bananen, ein 150-Liter-Benzinfass, eine Tute Salz. Eine ganze Reihe von Leuten war mit Dosen eines besonders starken, vorzuglichen Insektenabwehrmittels aufgetaucht, das Tom hoflich ablehnte.
Plotzlich verstummte die Menge. Tom horte in der Ferne das Summen eines Au?enbordmotors. Marisol ergriff sofort das Wort: »Kommen Sie mit in den Wald. Schnell!«
Die Menge loste sich rasch auf. Im Dorf wurde es still, es wirkte wieder wie ausgestorben. Marisol ging ihnen ruhig in den Wald voraus, wobei sie einem fast unsichtbaren Pfad folgte. Zwischen den Baumen waberte zwielichtiger Dunst dahin. Rings um sie her war uberall Sumpf, doch der Pfad schlangelte sich hier und da entlang und blieb stets auf festem Boden. Hinter ihnen verstummten die Gerausche aus dem Dorf, dann hullte der Schutz des Waldes sie ein. Nach einer zehn Minuten langen Wanderung blieb Marisol stehen.
»Wir warten hier.«
»Wie lange?«
»Bis die Soldaten weg sind.«
»Was ist mit unserem Boot?«, fragte Sally. »Werden sie es nicht erkennen?«
»Wir haben Ihr Boot schon versteckt.«
»Das war eine gute Idee. Danke.«
»Gern geschehen.« Das selbstbewusste Madchen richtete den Blick seiner dunklen Augen wieder auf den Pfad und wartete so reglos und still wie ein Reh.
»In welche Schule gehst du?«, fragte Sally kurz darauf.
»In die der Baptisten. Sie liegt flussabwarts.«
»Eine Missionsschule?«
»Ja.«
»Bist du Christin?«
»Aber
Sally errotete. »Nun ... ahm ... Meine Eltern waren Christen.«
»Das ist gut«, sagte Marisol lachelnd. »Wurde mir nicht gefallen, wenn Sie in die Holle kamen.«
»Tja«, sagte Tom in die unbehagliche Stille hinein. »Marisol, ich wurde gern wissen, ob es au?er Don Alfonso noch jemanden im Dorf gibt, der den Weg durch den Meambar-Sumpf kennt.«
Marisol schuttelte ernst den Kopf. »Er ist der Einzige.«