Sie haben von Anfang an gewusst, was passieren wird. Sie haben gehofft, dass ich die Sache allein regle. So lauft es aber nicht. Ich raume Ihnen keine Chance ein, in dieser Hinsicht irgendetwas abzustreiten. Wenn da was schief geht, werden Sie nicht das Fu?volk abservieren und einen Kuhhandel mit der Justiz machen. Wenn die Zeit reif ist, werden Sie mir sagen, dass ich sie umlegen soll. So lauft das und nicht anders. Und das wissen Sie genau.«

»Horen Sie sofort mit diesem Gerede auf. Es wird niemand ums Leben kommen.«

»Ach, Lewis, Lewis ...«

Skiba wurde schlecht. Er spurte, dass die Ubelkeit sich wellenformig in seinem Magen ausbreitete. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Aktie schon wieder sank. Die SEC hatte den Wertpapierhandel nicht nur zum Stillstand gebracht, sie hatte das Unternehmen auch in den Wind gedrangt. Zwanzigtausend Angestellte waren von Skiba abhangig; Millionen Kranke brauchten seine Medikamente; er hatte Frau und Kinder, ein Haus, zwei Millionen eigene Optionen und sechs Millionen Anteile ...

Skiba vernahm etwas aus dem Horer, das wie eine Hupe klang - es war eindeutig Gelachter. Er fuhlte sich plotzlich sehr schwach. Wieso hatte er es nur so weit kommen lassen? Wie war es diesem Menschen nur gelungen, sich seiner Kontrolle zu entziehen?

»Sie bringen niemanden um«, sagte er. Er musste schlucken, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. Er wurde sich jeden Moment ubergeben. Es gab eine legale Moglichkeit, das Geschaft zu machen. Broadbents Sohne konnten den Codex dort herausholen, dann konnte er mit ihnen verhandeln und ein Abkommen mit ihnen treffen ... Aber er wusste, dass es nicht dazu kommen wurde, solange Lampe unter einem Wust von Geruchten und Ermittlungsverfah-ren begraben war und der Wert der Aktie in den Keller ging ...

Hausers Stimme klang nun freundlich. »Horen Sie, ich wei?, dass es eine harte Entscheidung ist. Wenn Sie es wirklich nicht uber sich bringen konnen, kehre ich um. Dann vergessen wir die ganze Sache mit dem Codex. Wirklich.«

Skiba schluckte. Der Klumpen in seiner Kehle fuhlte sich an, als wolle er ihn ersticken. Seine drei flachsblonden Sohne schauten ihn aus den Silberrahmen auf dem Schreibtisch an.

»Sprechen Sie das Wort einfach aus, und wir machen kehrt. Dann blasen wir die Sache eben ab.«

»Es wird niemand umgebracht.«

»Horen Sie, wir brauchen jetzt noch gar keine Entscheidung zu fallen. Uberschlafen Sie die Sache doch erst mal.«

Skiba wankte auf die Beine. Er machte einen Versuch, den mit Leder bezogenen und mit Goldgriffen versehenen Papierkorb zu erreichen, doch er kam nur bis an den Kamin.

Wahrend sein Erbrochenes in den Flammen knisterte und zischte, kehrte er ans Telefon zuruck und hob es ans Ohr, um etwas zu sagen, doch dann uberlegte er es sich anders und legte mit zittriger Hand auf. Seine Hand schlingerte zur obersten Schublade des Schreibtisches und tastete nach der kuhlen Kunststoffflasche.

22

Eine halbe Stunde spater sah Tom Bewegung im Urwald.

Eine alte Frau mit Kopftuch schlenderte uber den Pfad. Marisol eilte mit einem Schluchzen zu ihr hin, dann sprachen sie schnell in ihrer eigenen Sprache miteinander.

Marisol wandte sich mit einem deutlich erleichterten Blick zu Tom und Sally um. »Es ist, wie ich gesagt habe. Die Soldaten haben nur in die Luft geschossen, um uns Angst zu machen. Dann sind sie gegangen. Wir haben sie uberzeugt, dass Sie nicht bei uns im Dorf waren und nicht vorbeigekommen sind. Sie sind wieder flussabwarts gefahren.«

Als sie zur Hutte kamen, stand Don Alfonso im Freien, schmauchte seine Pfeife und wirkte so unbekummert, als sei nichts geschehen. Sobald er sie sah, verzog sich sein Gesicht zu einem Lacheln. »Chori! Pingo! Kommt her. Kommt raus und begru?t unsere neuen Yanqui-Bosse! - Chori und Pingo sprechen kein Spanisch. Sie sprechen nur Tawahka, aber ich brulle sie immer auf Spanisch an, um meine Autoritat zu demonstrieren. Das mussen Sie ubrigens genauso machen.«

Zwei prachtig gebaute Kerle kamen geduckt aus der Hutte. Sie waren von der Taille aufwarts nackt, und ihre muskulosen Leiber glanzten olig. Die Arme des Mannes, der Pingo hie?, wiesen westlich wirkende, sein Gesicht indianische Tatowierungen auf. Er hielt eine meterlange Machete in der Hand. Chori trug ein altes Springfield-Gewehr uber der Schulter. In der Hand hielt er eine Pulaski-

Feuerwehraxt.

»Wir werden das Boot jetzt beladen. Wir mussen das Dorf so schnell wie moglich verlassen.«

Sally schaute Tom kurz an. »Offenbar ist Don Alfonso doch unser Fuhrer.«

Als Chori und Pingo die Vorrate und die Ausrustung zum Flussufer brachten, leitete Don Alfonso sie schreiend und gestikulierend an. Ihr Einbaum war wieder da und sah aus, als habe man ihn nie von der Stelle bewegt. Eine halbe Stunde spater war alles eingeladen. Die Ausrustung ruhte als gro?er Haufen in der Mitte des Bootes und war unter einer Kunststoffplane festgezurrt. Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge am Ufer versammelt. Kochfeuer wurden angezundet. Sally wandte sich an Marisol. »Du bist ein wunderbares Madchen«, sagte sie. »Du hast uns das Leben gerettet. Ist dir eigentlich klar, dass du noch viel im Leben erreichen kannst?« Marisol schaute sie ruhig an. »Ich mochte nur eines erreichen.«

»Und zwar?«

»Amerika.« Sonst sagte sie nichts. Sie schaute Sally nur mit ernster, intelligenter Miene an.

»Ich hoffe, du schaffst es«, erwiderte Sally. Marisol lachelte zuversichtlich und richtete sich auf. »Ich werde es schaffen. Don Alfonso hat es versprochen. Er hat einen Rubin.«

Am Flussufer wimmelte es nun von Menschen. Ihre Abreise schien sich zu einem Fest zu entwickeln. Eine Gruppe junger Frauen bereitete uber einem Feuer ein Essen fur die ganze Gemeinschaft zu. Kinder liefen umher, spielten, lach-

ten und jagten Huhner. Als sich schlie?lich das gesamte Dorf versammelt zu haben schien, schritt Don Alfonso durch die Menge, die ihm Platz machte. Er trug nagelneue Shorts und ein T-Shirt, auf dem »Keine Angst« stand. Als er sich zu Tom und Sally auf den Bambuskai gesellte, verzog er das Gesicht zu einem Lacheln.

»Alle sind gekommen, um uns eine gute Reise zu wunschen«, sagte er zu Tom. »Da sehen Sie mal, wie beliebt ich in Pito Solo bin. Ich bin ein ganz besonderer Don Alfonso Boswas. Jetzt haben Sie den Beweis, dass Sie den richtigen Mann ausgewahlt haben, um Sie durch den Meambar-Sumpf zu fuhren.«

In der Nahe wurden ein paar Feuerwerkskorper gezundet.

Die Menschen lachten vergnugt. Die Frauen verteilten das Essen. Don Alfonso nahm Tom und Sally an der Hand.

»Wir steigen jetzt ins Boot.«

Chori und Pingo, noch immer bis zur Taille nackt, hatten ihre Platze schon eingenommen; der eine am Bug, der andere am Heck. Sie hielten die Leinen und waren zum Ablegen bereit. Dann stieg auch Don Alfonso ein. Als er das Gleichgewicht gefunden hatte, drehte er sich um und wandte sich an die Menge. Schweigen senkte sich uber die Versammlung: Don Alfonso wollte eine Rede halten. Als absolute Stille eingekehrt war, fing er an. Er sprach in einem amtlich klingenden Spanisch.

»Meine Freunde und Landsleute, vor vielen Jahren wurde uns prophezeit, dass wei?e Menschen kommen und ich sie auf eine lange Reise begleite. Jetzt sind sie hier. Wir brechen nun zu einer gefahrlichen Fahrt durch die MeambarSumpfe auf. Wir werden Abenteuer erleben und viele seltsame und wunderbare Dinge schauen, die noch kein Mensch zuvor gesehen hat.

Ihr fragt euch vielleicht, warum ich diese gro?artige Reise mache. Ich will es euch erzahlen. Dieser Amerikaner ist zu uns gekommen, um seinen Vater zu retten, der den Verstand verloren und seine Gattin und seine Familie verlassen hat. Er hat auch all seine Besitztumer mitgenommen, sodass seine Familie in Armut leben muss. Seine arme Frau hat jeden Tag bittere Tranen um ihn geweint, da sie ihre Familie nicht mehr ernahren und vor wilden Tieren beschutzen kann. Ihr Haus sturzt ein, das Reet ist verfault, und es regnet durchs Dach. Niemand will die Schwestern dieses Amerikaners heiraten, deswegen werden sie sich bald der Hurerei hingeben mussen. Seine Neffen sind dem Alkohol verfallen. Dieser junge Mann,

sein Sohn, ist gekommen, um ihn von seinem Wahnsinn zu heilen und nach Amerika zuruckzubringen, wo er

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