»Ist der Sumpf schwierig zu durchqueren?«
»Und wie.«
»Warum ist er so sehr darauf aus, uns zu fuhren?«
Marisol schuttelte nur den Kopf. »Das wei? ich nicht. Er hat Traume und Visionen, und davon hat er auch getraumt.«
»Er hat wirklich getraumt, dass wir kommen?«
»Aber ja. Als der erste Wei?e kam, hat er gesagt, bald kamen auch seine Sohne. Und jetzt sind Sie da.«
»Vielleicht hat er's ja nur vermutet und einen Gluckstref-fer gelandet«, sagte Tom auf Englisch.
In der Ferne fiel ein Schuss und warf sein Echo durch den Urwald. Dann noch einer. Er rollte wie Donner, da der Dschungel ihn auf eigenartige Weise verzerrte. Es dauerte lange, bis das Echo verhallte. Die Auswirkungen des Gerausches auf Marisol waren schrecklich. Sie wurde bleich, zitterte und wankte. Aber sie sagte nichts und ruhrte sich nicht von der Stelle. Tom empfand Besturzung. War jemand erschossen worden?
»Die erschie?en doch da niemanden?«, fragte er.
»Ich wei? nicht.«
Tom sah, dass Marisols Augen sich mit Tranen fullten.
Doch sie verriet kein Gefuhl.
Sally tastete nach Toms Hand. »Vielleicht erschie?en sie jemanden, weil sie uns nicht finden konnen. Vielleicht sollten wir uns stellen.«
»Nein«, sagte Marisol jah. »Vielleicht schie?en sie nur in die Luft. Wir konnen jetzt nur abwarten.« Eine einzelne Trane lief ihr uber die Wange.
»Wir hatten nie hier anhalten sollen«, sagte Sally und wechselte wieder ins Englische. »Wir haben kein Recht, diese Leute in Gefahr zu bringen. Tom, wir
»Sie haben Recht.« Tom wandte sich zum Gehen.
»Wenn Sie zuruckkehren, werden sie
»Damit kommen sie nicht ungestraft durch«, sagte Sally mit bebender Stimme. »Ich melde es der amerikanischen Botschaft. Die Soldaten werden ihrer Strafe nicht entgegen.«
Marisol schwieg. Sie stand nun wieder still da, wie ein Reh, und zitterte kaum merklich. Aber sie weinte nicht mehr.
21
Lewis Skiba blieb allein in seinem Buro zuruck. Es war zwar noch fruh am Nachmittag, aber er hatte alle nach Hause geschickt, damit sie der Presse nicht in die Hande liefen. Er hatte das Burotelefon ausgestopselt und die beiden Au?enturen zugemacht. Wahrend die Firma sich rings um ihn aufloste, war er in einen Kokon des Schweigens gehullt, verpackt in das goldene Leuchten der Marke Eigen-bau.
Die Securities and Exchange Commission hatte nicht einmal bis zum Borsenschluss gewartet, um bekannt zu geben, dass sie die Ermittlungen hinsichtlich der
Unregelma?igkeiten in der Buchhaltung von Lampe-Denison Pharmaceuticals aufgenommen hatte. Die Bekanntmachung hatte sich wie ein Paukenschlag auf die Aktie ausgewirkt. Nun stand Lampe bei sieben ein Viertel und fiel weiter. Das Unternehmen war wie ein im Sterben liegender Wal - gelahmt, sich suhlend, von einem ekstatischen, geistlosen Schwarm von Haien umgeben: Leerverkaufern, die ihn stuckweise zerfetzten. Es war ein primitiver darwinistischer Fressrausch. Und jeder Dollar, den sie aus dem Aktienpreis herausbissen, riss ein Hundert-Millionen-Dollar-Loch in Lampes Marktkapitel.
Skiba war hilflos.
Die Firmenanwalte hatten ihre Pflicht getan. Sie hatten die ubliche Meldung herausgegeben, dass die Behauptungen
»haltlos« seien und Lampe bereitwillig kooperieren wurde, um seinen Namen sauber zu halten. Graff, der Finanzchef, hatte seine Rolle gespielt und verlautbaren lassen, Lampe sei gewissenhaft den allgemein akzeptierten Buchhaltungs-prinzipien gefolgt. Lampes Buchprufer hatten Entsetzen und Abscheu ausgedruckt und erklart, sie hatten sich auf Lampes Finanzverlautbarungen und Bekenntnisse verlassen. Falls es irgendwelche Unregelma?igkeiten gabe, seien sie ebenso grundlich getauscht worden wie alle anderen auch. Jede Borsenschwafelei, die Skiba von anderen schragen Firmen und ihren Legionen von Bevollmachtigten kannte, war aufs Tapet gekommen. Alles klang so gestelzt und vorprogrammiert wie ein japanisches Kabuki-Drama.
Au?er ihm hatten sich alle ans Drehbuch gehalten. Nun wollten alle etwas von ihm horen, dem gro?en und schrecklichen Skiba. Sie wollten den Vorhang wieder aufrei?en.
Alle wollten einen Blick auf den Scharlatan werfen, der an den Kontrollknopfen sa?.
Aber so wurde es nicht laufen. Jedenfalls nicht, solange er noch atmen konnte. Sollten sie doch daherplappern und Hame verbreiten. Er wurde schweigen. Und wenn dann der Codex eintraf und der Wert ihrer Aktie sich verdoppelte, verdreifachte, vervierfachte ...
Skiba schaute auf seine Armbanduhr. Noch zwei Minuten.
Wenn man davon absah, dass der Verschlussler Hausers Stimme wie Donald Duck klingen lie?, war die Satelliten-verbindung so deutlich, als riefe er aus dem Nebenraum an.
Trotzdem waren Hausers gro?kotziges Gehabe und seine unverschamte Vertrautheit unuberhorbar.
»Wie geht's Ihnen, Lewis?«, fragte er.
Skiba lie? einen frostigen Moment verstreichen, bevor er antwortete: »Wann kriege ich den Codex?«
»Also, Skiba, die Lage ist folgende: Vernon, der mittlere der Bruder, hat sich, wie ich's vorhergesehen habe, in den Sumpfen verirrt, dieser Arsch, und wird moglicherweise bald seinen Abschied einreichen. Tom, der jungste ...«
»Ich habe mich nicht nach den Brudern erkundigt, sondern nach dem Codex. Die Bruder sind mir gleichgultig.«
»Sie durften Ihnen aber nicht
Skiba drehte die hochnasige Quakstimme leiser. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er je einen Menschen so gehasst hatte wie in diesem Moment Hauser.
»Das zweite Problem ist Philip, der alteste Sohn. Ich werde mich irgendwann seiner annehmen mussen. Ich brauche ihn noch eine Weile, aber wenn er seine Schuldigkeit getan hat, tja, dann konnen wir nicht zulassen, dass er plotzlich den Hals reckt - haben Sie das eigentlich gesagt oder ich? -
und behauptet, er sei der Eigentumer des Codex. Das Glei-
che gilt fur Vernon und Tom. Und auch fur die Frau, mit der Tom unterwegs ist - Sally Colorado.«
Ein langes Schweigen entstand.
»Sie verstehen doch wohl, was ich sage, oder?«
Skiba wartete ab. Er versuchte sich zu beherrschen. Diese Gesprache waren eine unglaubliche Zeitverschwendung.
Und nicht nur das: Sie waren auch gefahrlich.
»Sind Sie noch da, Lewis?«
»Warum erledigen Sie nicht einfach Ihren Auftrag?«, sagte Skiba wutend. »Was sollen diese Anrufe? Sie haben den Auftrag, mir den Codex zu liefern.
Hausers Kichern schwoll zu einem Lachen an. »Ach, das ist ja reizend. Doch so leicht kommen Sie mir nicht davon.