Aber die Antwort wurde unerwartet und ziemlich grauenhaft ausfallen.
20
Zwei Tage lag eine dichte, schutzende Dunsthulle uber dem Fluss. Tom und Sally stakten flussaufwarts, folgten sich dahinschlangelnden Seitenarmen und hielten eine strenge Politik des Schweigens ein. Sie waren Tag und Nacht unterwegs und wechselten sich beim Schlafen ab. Au?er Sallys zwei Schokoriegeln hatten sie wenig zu essen, deswegen wurden sie rationiert. Unterwegs pfluckten sie etwas Obst.
Von den sie verfolgenden Soldaten sahen sie keine Spur.
Tom hoffte allmahlich, dass sie aufgegeben hatten und nach Brus zuruckgekehrt waren. Vielleicht waren sie ja auch irgendwo stecken geblieben. Der Fluss wimmelte von Sand-und Schlammbanken sowie versunkenen Baumstammen, an denen Boote hangen bleiben konnten. Waono hatte Recht gehabt.
Am Morgen des dritten Tages hob sich der Dunst allmahlich und enthullte die beiden tropfelnden Wande aus wild wuchernder Dschungelvegetation, die den Schwarzwasser-Fluss saumten. Kurz darauf erspahten sie einen uber dem Wasser aufragenden Pfahlbau mit geflochtenen Wanden und Reetdach. Dahinter tauchte ein Ufer mit Granitfindlin-gen und einem steilen Uferdamm auf - das erste trockene Land, das sie seit Tagen zu sehen bekamen. Am Ufer des Flusses wurde ein Anlegeplatz wie in Brus erkennbar - eine wackelige Plattform aus Bambusstaben, die an schlanken, in der Erde versunkenen Baumstammen befestigt war.
»Was meinen Sie?«, fragte Tom. »Sollen wir anhalten?«
Sally stand auf. Auf der Plattform angelte ein Junge mit Pfeil und Bogen.
»Pito Solo?«
Doch der Junge hatte sie gesehen. Er rannte schon davon und lie? seine Rute zuruck.
»Machen wir einen Versuch«, sagte Tom. »Wenn wir nichts zu essen kriegen, sind wir erledigt.« Er stakte zum Anlegeplatz.
Sie sprangen aus dem Boot, und die Plattform knackte und wankte beangstigend. Dahinter fuhrte eine wackelige Planke auf eine steile Anhohe, die aus dem uberfluteten Urwald ragte. Kein Mensch weit und breit. Sie kletterten den schlupfrigen Uferdamm hinauf, wobei sie standig im Schlamm ausrutschten. Alles war klitschnass. Ganz oben befand sich eine kleine offene Hutte, in der ein Feuer brannte. Ein alter Mann sa? in einer Hangematte und briet auf einem Holzspie? ein Tier. Tom beaugte es, wobei ihm der kostliche Duft des bratenden Fleisches in die Nase stieg.
Sein Appetit lie? etwas nach, als er feststellte, dass es sich um einen Affen handelte.
Sally sprach Spanisch. »Ist das hier Pito Solo?«
Langes Schweigen machte sich breit. Der Mann ma? sie mit leerem Blick.
»Er spricht kein Spanisch«, sagte Tom.
»Wie kommen wir zum Dorf?
Der Mann deutete in den Dunst. Ein lauter tierischer Schrei ertonte, der Tom zusammenzucken lie?.
»Da ist ein Pfad«, sagte Sally.
Sie gingen den Pfad hinauf und erreichten kurz darauf den Ort. Er lag auf einer Anhohe oberhalb des uber- schwemmten Regenwaldes und war eine bunt zusammen-gewurfelte Ansammlung von Lehmflechtwerkhutten mit Blech- oder Reetdachern. Huhner ergriffen die Flucht, als sie sich naherten. Magere Hunde pirschten an den Haus-wanden entlang und beaugten sie mit argwohnischen Blik-ken. Sie schlenderten durch das Dorf, das einen verlassenen Eindruck machte und ebenso plotzlich, wie es angefangen hatte, an einer soliden Dschungelmauer endete.
Sally schaute Tom an. »Was jetzt?«
»Wir klopfen.« Tom wahlte willkurlich eine Tur aus und klopfte an.
Stille.
Tom horte ein Rascheln und schaute sich um. Zuerst sah er nichts, dann wurde ihm klar, dass ihn hundert dunkle Augen aus dem Blattergewirr des Urwaldes musterten. Es waren ausnahmslos Kinder.
»Wenn ich doch noch Su?igkeiten hatte«, sagte Sally.
»Nehmen Sie einen Dollar.«
Sally zuckte einen Dollar. »Hallo? Mochte jemand einen amerikanischen Dollar haben?«
Ein Schrei ertonte, dann sturmten hundert Kinder aus dem Dschungelgewoge hervor. Sie schrien und johlten und streckten die Hande aus.
»Wer spricht Spanisch?« Sally hob den Dollar in die Luft.
Alle krakeelten gleichzeitig auf Spanisch los. Ein alteres Madchen trat aus dem Gewimmel hervor. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte es mit gro?artiger Korperhaltung und Wurde. Sie war etwa dreizehn, hubsch, trug ein T- Shirt mit ineinander verlaufenden Farben, Shorts und goldene Ohrringe.
Dicke braune Zopfe fielen auf ihre Schultern.
Sally gab ihr den Dollar. Ein lautes und enttauschtes
»Wie hei?t du?«
»Marisol.«
»Was fur ein schoner Name.«
Das Madchen lachelte.
»Wir suchen Don Orlando Ocotal. Kannst du uns zu ihm bringen?«
»Er ist vor uber einer Woche mit den Yanquis weggegan-gen.«
»Mit welchen
»Mit einem gro?en wutenden Gringo. Er hatte uberall Stiche im Gesicht. Und mit einem anderen. Er hat immer gela-chelt und hatte goldene Ringe an den Fingern.«
Tom fluchte und schaute Sally an. »Offenbar hat Philip unseren Fuhrer vor uns erwischt.« Er wandte sich Marisol zu. »Haben sie gesagt, wohin sie wollen?«
»Nein.«
»Gibt es Erwachsene hier im Dorf? Wir wollen flussaufwarts und brauchen einen Fuhrer.«
»Ich kann Sie zu meinem Gro?vater bringen«, sagte das Madchen. »Don Alfonso Boswas. Er ist der Burgermeister hier. Er wei? alles.«
Sie folgten ihr. Marisol wirkte sehr selbstbewusst und fahig, ein Eindruck, den ihre aufrechte Korperhaltung noch verstarkte. Als sie an den schiefen Hutten vorbeigingen, drangen Kochdunste in Toms Nase, die ihn vor Hunger beinahe ohnmachtig werden lie?en. Marisol fuhrte sie zur mehr oder weniger schlimmsten Hutte des Dorfes, einem windschiefen Haufen aus dunnen Stammen, zwischen denen sich fast kein Lehm mehr befand. Sie ragte an einer erdigen Flache auf, die als Dorfplatz diente. In der Mitte wuchsen einige verwahrloste Zitronen- und Bananenbau-me.
Vor der Tur machte Marisol ihnen Platz, und sie traten ein. In der Mitte der Hutte sa? ein alter Mann auf einem fur ihn zu niedrigen Hocker. Seine knochigen Knie durchsta-chen die riesigen Locher in seiner Hose. Auf seinem fast kahlen Schadel standen ein paar Strahnen wei?en Haars in alle Richtungen ab. Er rauchte eine Maiskolbenpfeife, deren Qualm die Hutte mit einem teerartigen Geruch erfullte.
Neben ihm lag eine Machete auf dem Boden. Er war klein und trug eine Brille, die seine Augen so sehr vergro?erte, dass er wie standig uberrascht wirkte. Es war kaum zu fassen, dass er der Ortsvorstand sein sollte. Er sah eigentlich eher aus wie der armste Dorfbewohner.
»Don Alfonso Boswas?«, fragte Tom.
»Wer?«, schrie der Greis. Er riss die Machete an sich und schwenkte sie vor Toms Nase herum. »Boswas? Dieser Lump? Er ist weg. Man hat ihn langst aus dem Dorf gejagt.
Dieser Tunichtgut lebt schon viel zu lange. Er hat den ganzen Tag lang nur rumgesessen, Pfeife geraucht und den Madchen hinterhergeschaut, die an seiner Hutte vorbeige-gangen sind.«
Tom musterte den Mann uberrascht, dann drehte er sich um und suchte nach Marisol. Sie stand im Turrahmen und unterdruckte ein Grinsen.