»Was fur ein Fieber hat er?«, fragte Vernon.

»Das lasst sich ohne Blutuntersuchung unmoglich sagen.«

»Wird er sterben?«

»Ich wei? nicht.« Tom wechselte ins Spanische. »Haben Sie irgendeine Ahnung, welche Krankheit dieser Mann hat, Don Alfonso?«

Don Alfonso kletterte ebenfalls in das andere Boot und beugte sich uber den Patienten. Er tippte auf seinen Brustkorb, schaute ihm in die Augen, fuhlte seinen Puls, begut-

achtete seine Hande und blickte dann auf. »Ja, ich kenne diese Krankheit gut.«

»Wie hei?t sie?«

»Tod.«

»Nein«, sagte Vernon aufgebracht. »Sagen Sie das nicht.

Er stirbt nicht.«

Tom bedauerte es, Don Alfonsos Meinung eingeholt zu haben. »Wir bringen ihn im Einbaum zum Lager zuruck.

Chori kann das Boot staken. Ich stake unseres.« Er wandte sich an Vernon. »Wir haben da druben einen toten Fuhrer gefunden. Wo ist der andere?«

»Er wurde nachts von einem Jaguar angefallen und auf einen Baum gezerrt.« Vernon schuttelte sich. »Wir haben seine Schreie und das Brechen seiner Knochen gehort. Es war

...« Der Satz endete in einem wurgenden Laut. »Tom, bring mich hier weg.«

»Mach ich«, sagte Tom. »Wir schicken dich und deinen Lehrer mit Pingo nach Brus.«

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kehrten sie ins Lager zuruck. Vernon baute eines ihrer Zelte auf, dann hievten sie den Lehrer aus dem Boot und brachten ihn hinein. Er ver-weigerte jede Nahrung und sprach kein Wort. Er starrte alle nur auf hochst beunruhigende Weise an. Tom fragte sich, ob der Mann noch geistig gesund war.

Vernon bestand darauf, die Nacht bei seinem Lehrer im Zelt zu verbringen. Am nachsten Morgen, als die Sonne sich gerade uber die Baumwipfel erhob, weckte er die anderen mit einem Hilfeschrei. Der Lehrer sa? aufrecht im Schlafsack und wirkte sehr aufgebracht. Sein Gesicht war bleich und trocken, seine Augen glitzerten wie blaue Por-zellansplitter. Sein Blick fuhr wild hin und her, ohne sich jedoch auf etwas Bestimmtes zu richten. Seine Hande fuchtelten in der Luft umher.

Urplotzlich fing er an zu reden. »Vernon!«, schrie er fuch-telnd. »Oh, mein Gott, wo bist du, Vernon? Wo bin ich?«

Tom wurde mit Besturzung klar, dass er erblindet war.

Vernon nahm die Hande des Lehrers und kniete sich nieder. »Hier bin ich, Lehrer. Wir sind im Zelt. Wir bringen dich nach Amerika zuruck. Da wird es dir wieder besser gehen.«

»Was war ich doch fur ein gottverdammter Narr!«, schrie der Lehrer. Sein Mund verzog sich bei der Anstrengung des Sprechens. Er spuckte um sich.

»Bitte, Lehrer! Bitte, reg dich nicht auf. Wir fahren nach Hause, nach Big Sur, in den Ashram zuruck ...«

»Ich hatte alles!«, brullte der Lehrer. »Ich hatte Geld! Ich hatte jede Menge junge Schnallen zum Vogeln! Ich hatte ein Haus am Meer! Ich war von Menschen umgeben, die mich verehrten! Ich hatte alles.« Seine Stirnadern traten dick hervor. Speichel lief ihm ubers Kinn und blieb daran hangen.

Sein ganzer Korper zitterte so heftig, dass Tom sich einbil-dete, seine Knochen klappern zu horen. Seine blinden Augen verdrehten sich so wild wie wirbelnde Flipperballe.

»Wir bringen dich ins Krankenhaus, Lehrer. Sei jetzt still.

Alles kommt wieder in Ordnung. Bestimmt ...«

»Doch was habe ich getan? Ha! Es hat mir nicht gereicht!

Ich wollte mehr - wie ein Blodian! Ich wollte hundert Millionen Dollar mehr! Und jetzt schau dir an, was aus mir geworden ist!« Die letzten Worte brullte er formlich, und als sie ihm uber die Lippen gekommen waren, fiel er schwer nach hinten, wobei sein Korper das Gerausch eines auf den Boden klatschenden toten Fisches erzeugte. Er blieb liegen.

Seine Augen standen weit offen, doch ihr Glanz war verschwunden. Er war tot.

Vernon starrte von Grauen geschuttelt vor sich hin. Er brachte kein Wort heraus. Tom legte eine Hand auf die Schulter seines Bruders und merkte, wie er zitterte. Es war ein garstiger Tod gewesen.

Auch Don Alfonso war schwer erschuttert. »Wir mussen weiter«, sagte er. »Ein boser Geist ist gekommen und hat den Mann mitgenommen, obwohl er nicht gehen wollte.«

»Bereiten Sie eines der Boote fur die Ruckreise vor«, sagte Tom zu Don Alfonso. »Pingo soll Vernon nach Brus bringen, bevor wir weiterfahren. Falls Sie keine Einwande haben.«

Don Alfonso nickte. »Es ist besser so. Der Sumpf ist kein Ort fur Ihren Bruder.« Er rief Chori und Pingo Anweisungen zu. Die nicht weniger entsetzten Manner machten sich an die Arbeit. Sie waren froh, dass sie verschwinden konnten.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Vernon. »Er war ein so guter Mensch. Wie konnte er nur so sterben?«

Nach Toms Ansicht war Vernon standig Schwindlern auf-gesessen - finanziell, gefuhlsma?ig und spirituell. Doch jetzt war nicht der passende Zeitpunkt, dies zur Sprache zu bringen. »Manchmal meint man, jemanden genau zu kennen«, sagte er, »aber in Wirklichkeit kennt man ihn nicht.«

»Ich habe drei Jahre an seiner Seite verbracht. Ich habe ihn wirklich gekannt. Es muss am Fieber gelegen haben. Er war im Delirium, nicht bei Sinnen. Er wusste nicht, was er redet.«

»Lass ihn uns begraben und verschwinden.«

Vernon machte sich an die Arbeit, ein Grab auszuheben.

Tom und Sally halfen ihm dabei. Sie rodeten einen kleinen Platz hinter dem Lager, durchtrennten mit Choris Axt Wurzeln und gruben sich in den darunter befindlichen Boden. Nach zwanzig Minuten hatten sie im harten Lehmbo-den eine niedrige Grube ausgehoben. Sie trugen den toten Lehrer zu seinem Grab, legten ihn hinein und bedeckten ihn mit einer Lehmschicht. Anschlie?end fullten sie das Grab mit glatten Steinen vom Flussufer. Don Alfonso, Chori und Pingo waren bereits in den Booten. Sie waren ungeduldig und wollten ablegen.

»Alles in Ordnung mit dir?« Tom legte einen Arm um seinen Bruder.

»Ich habe einen Entschluss gefasst«, sagte Vernon. »Ich fahre nicht zuruck. Ich komme mit euch.«

»Vernon, wir haben schon alles vorbereitet.«

»Wohin soll ich denn zuruckkehren? Ich bin pleite. Ich hab nicht mal ein Auto. Und in den Ashram kann ich bestimmt nicht mehr.«

»Dir fallt schon was ein.«

»Mir ist schon was eingefallen: Ich komme mit.«

»Dein Zustand erlaubt nicht, dass du mitkommst. Du bist da drau?en beinahe draufgegangen.«

»Das ist etwas, das ich tun muss«, sagte Vernon. »Ich bin jetzt wieder auf dem Damm.«

Tom zogerte. Er fragte sich, ob Vernon wirklich wieder in Ordnung war.

»Bitte, Tom.«

In Vernons Stimme schwang eine so instandige Bitte mit, dass Tom Uberraschung empfand. Au?erdem war er, wenn auch widerwillig, ein wenig stolz. Er packte Vernon an der Schulter. »In Ordnung. Wir machen es zusammen. So, wie Vater es gewollt hat.«

Don Alfonso klatschte in die Hande. »Was ist jetzt? Brechen wir nun auf?«

Tom nickte, und Don Alfonso gab den Befehl zum Ablegen.

»Jetzt, da wir zwei Boote haben«, sagte Sally, »stake ich ebenfalls.«

»Pah! Staken ist Mannerarbeit!«

»Sie sind ein Sexistenschwein, Don Alfonso.«

Don Alfonsos Stirn runzelte sich. »Ein Sexistenschwein?

Was ist das fur ein Tier? Oder war das gerade eine Beleidigung?«

»Das kann man wohl sagen«, sagte Sally.

Don Alfonso stakte kraftig los. Sein Boot glitt voran. Er grinste. »Dann freue ich mich. Es ist immer eine Ehre, wenn man von einer schonen Frau beleidigt wird.«

Вы читаете Der Codex
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату