»Wo entspringen sie?«

»Ihre Quellen liegen in den Bergketten im Landesinnern.

Einige kommen aus der Cordillera Entre Rios, manche aus der Sierra Patuca und manche aus der Sierra de la Neblinas.

Der Macaturi ist der langste Fluss. Er entspringt in der Sierra Azul, die auf halbem Weg zum Pazifik liegt.«

»Kann man Boote auf den Flussen navigieren?«

»Angeblich in den unteren Abschnitten.«

»Angeblich?«, fragte Tom. »Dann waren Sie also noch nicht dort?«

»Keiner aus meinem Volk war je dort. Das Land da druben ist sehr gefahrlich.«

»Wieso?«, fragte Sally.

»Die Tiere dort furchten keine Menschen. Dort gibt es Erdbeben, Vulkane und bose Geister. Und au?erdem eine Damonenstadt, aus der nie jemand zuruckkehrt.«

»Eine Damonenstadt?«, fragte Vernon plotzlich interessiert.

»Ja. La Ciudad Bianca. Die Wei?e Stadt.«

»Was ist das fur eine Stadt?«

»Die Gotter haben sie erbaut. Ist lange her. Jetzt besteht sie nur noch aus Ruinen.«

Vernon nagte an einem Knochen, dann warf er ihn ins Feuer. Schlie?lich sagte er ernst: »Das ist die Antwort.«

»Auf welche Frage?«

»Auf die Frage, wo Vater hingegangen ist.«

Tom schaute ihn an. »Du machst ziemlich gro?e Sprunge.

Woher willst du das wissen?«

»Ich wei? es nicht. Aber das ist genau der Ort, an den Va-

ter gehen wurde. Eine solche Geschichte wurde ihm gefallen. Er wurde sie bestimmt uberprufen. Au?erdem basieren solche Geschichten oft auf der Wahrheit. Ich wette, er hat dort eine versunkene Stadt gefunden, irgendeine gro?e alte Ruine.«

»Aber in diesem Gebirge gibt es angeblich keine Ruinen.«

»Wer sagt das?« Vernon nahm ein weiteres Kotelett von den Palmwedeln und lie? es sich schmecken.

Tom fielen die Worte des rotgesichtigen Derek Dunn ein: Dass Anakondas angeblich keine Menschen fra?en. Er wandte sich Don Alfonso zu. »Ist die Existenz der Wei?en Stadt allgemein bekannt?«

Don Alfonso nickte langsam. Sein Gesicht verzog sich zu einer faltigen Maske. »Man redet daruber.«

»Und wo liegt sie?«

Don Alfonso schuttelte den Kopf. »Sie liegt nicht an einem bestimmten Ort. Sie wandert uber die hochsten Gipfel der Sierra Azul, ist stets an einem anderen Ort und verbirgt sich im Bergnebel.«

»Dann ist sie ein Mythos.« Tom schaute Vernon an.

»Oh, nein, Tomas, es gibt sie wirklich. Es hei?t, man kann sie nur erreichen, indem man eine bodenlose Schlucht uberquert. Wer ausrutscht und sturzt, stirbt vor Angst, und dann sturzt der Korper weiter ab, bis er nur noch aus Knochen besteht, die immer weiter in die Tiefe fallen, bis sie sich voneinander losen. Und am Ende ist dann nur noch eine Wolke aus Knochenstaub ubrig, die dann eine Ewigkeit lang in die Finsternis fallt.«

Don Alfonso schob ein Holzscheit in die Flammen. Tom schaute zu, wie er anfing zu qualmen und Feuer fing. Die Flammen verzehrten ihn von allen Seiten. Die Wei?e Stadt.

»Heutzutage gibt es keine versunkenen Stadte mehr«, sagte Tom.

»Da irren Sie sich«, sagte Sally. »Es gibt Dutzende, vielleicht sogar Hunderte. Sie liegen in Kambodscha, Burma, in der Wuste Gobi - und besonders hier, in Mittelamerika. Wie die Ausgrabungsstatte Q.«

»Die Ausgrabungsstatte Q?«

»Aus ihr stromt die Beute seit drei?ig Jahren nur so heraus und treibt die Archaologen in den Wahnsinn. Man wei?, dass es sich um eine gro?e Stadt der Mayas handeln muss, die irgendwo im guatemaltekischen Tiefland liegt, aber man kann sie nicht finden. Inzwischen nehmen Rauber sie Stein fur Stein auseinander und verkaufen sie auf dem Schwarzmarkt.«

»Vater hat sich in Bars rumgetrieben«, sagte Vernon. »Er hat fur Indianer, Holzfaller und Goldprospektoren Runden geschmissen und ihrem Tratsch uber Ruinen und versunkene Stadte gelauscht. Er hat sogar mehrere indianische Sprachen gelernt. Wei?t du noch, Tom, dass er sie auf Din-nerpartys manchmal gesprochen hat?«

»Ich hab immer geglaubt, er hatte sie erfunden.«

»Hor mal«, sagte Vernon. »Denk doch einen Augenblick nach. Vater wurde doch nicht selbst eine Grabkammer bauen, um sich darin bestatten zu lassen. Er wurde einfach eine von denen nehmen, die er langst ausgeraubt hat.«

Eine Weile sagte niemand ein Wort. Dann meinte Tom:

»Vernon, das ist genial.«

»Und er hat die einheimischen Indianer dazu bewegt, ihm zu helfen.«

Das Feuer knisterte. Es herrschte Totenstille.

»Aber Vater hat nie etwas uber eine Wei?e Stadt erzahlt«, warf Tom ein.

Vernon lachelte. »Genau. Und wei?t du warum? Weil es die Stadt ist, in der er seine gro?e Entdeckung gemacht hat

-weil es die Stadt ist, in der alles anfing. Als er hier ankam, war er pleite, und als er zuruckkehrte, hatte er eine Bootsla-dung voller Schatze bei sich und hat dann seine Galerie aus dem Boden gestampft.«

»Es klingt logisch.«

»Da hast du verdammt Recht. Ich wette alles, was ich habe, dass er dorthin zuruckgekehrt ist, um sich bestatten zu lassen! Der Plan ist perfekt. In dieser so genannten Wei?en Stadt muss es jede Menge vorhandene Grabkammern geben. Vater wusste, wo sie sind, weil er sie selbst ausgeplundert hat. Er brauchte nur zuruckzukehren und sich mit Hilfe einheimischer Indianer in einer dieser Kammern nieder-zulassen. Die Wei?e Stadt existiert wirklich, Tom.«

»Ich bin davon uberzeugt«, sagte Sally.

»Ich wei? sogar, wie Vater sich die Hilfe der Indianer erkauft hat«, sagte Vernon mit einem breiter werdenden Lacheln.

»Und wie?«

»Erinnerst du dich noch an die Quittungen, die der Polizist aus Santa Fe in Vaters Haus fur diese schonen franzosischen und deutschen Kochtopfe gefunden hat? Vater hat sie vor seinem Verschwinden bestellt. Damit hat er die Einheimischen bezahlt - mit Kochtopfen!«

Don Alfonso rausperte sich laut und demonstrativ. Als er die Aufmerksamkeit der anderen auf sich gezogen hatte, sagte er: »Das ist doch alles albern.«

»Und wieso?«

»Weil niemand die Wei?e Stadt betreten kann. Ihr Vater hatte sie nie finden konnen. Und selbst wenn er sie gefunden hatte - sie wird von Damonen bewohnt, die Menschen toten und ihnen die Seele rauben. Dort gibt es Winde, die einen zuruckwehen, und Nebel, die Auge und Geist verwirren. Und eine Quelle, die die Erinnerung ausloscht.« Er schuttelte heftig den Kopf. »Nein, das ist unmoglich.«

»Welchen Fluss muss man nehmen, um dorthin zu gelangen?«

Don Alfonso runzelte die Stirn. Seine gro?en Augen hinter den verschmutzten Brillenglasern schauten uberaus unglucklich drein. »Was wollen Sie mit diesem nutzlosen Wissen anstellen? Ich habe doch gesagt, dass es unmoglich ist.«

»Es ist nicht unmoglich. Au?erdem wollen wir dorthin.«

Don Alfonso verbrachte eine geraume Weile damit, Tom anzustarren. Dann seufzte er. »Der Macaturi wird Sie einen Teil des Weges bringen, aber weiter als zu den Wasserfallen kommt man nicht. Die Sierra Azul liegt viele Tage hinter den Fallen, hinter Bergen, Talern und noch mehr Bergen.

Man kann unmoglich dorthin reisen. Auch Ihr Vater kann es nicht geschafft haben.«

»Sie kennen unseren Vater nicht, Don Alfonso.«

Don Alfonso stopfte seine Pfeife. Sein besorgter Blick wanderte uber das Feuer. Er schwitzte. Die Hand, mit der er die Pfeife hielt, zitterte.

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